In Deutschland, einem der höchst entwickelten Länder der Welt, scheitern mehr als sechs Millionen Menschen daran, längere Texte zu verstehen. Rechnet man die dazu, die auffällig häufig Worte falsch schreiben, haben 10,5 Millionen Erwachsene erhebliche Probleme mit dem Lesen, Schreiben und Verstehen. Männer leiden daran häufiger als Frauen. Doch nur wenige packen ihre Lese- und Rechtschreibschwäche konsequent an.
Wie aus einer vom Bildungsministerium geförderten Studie hervorgeht, haben lediglich 0,7 Prozent der Betroffenen einen Kurs belegt, um gezielt Lesen und Schreiben zu üben. „Sie sehen keinen Nutzen in der Weiterbildung, weil sie auch so durch das Leben kommen“, sagte die Verfasserin der Studie, Professorin Anke Grotlüschen von der Universität Hamburg. Für die Untersuchung haben sie und ihre Forscherkollegen 7200 Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt.
Mehr als die Hälfte der Menschen, die kaum lesen und schreiben können, hat Deutsch als Muttersprache
Das schwere Defizit tritt dabei bei älteren Jahrgängen verstärkt auf. Aus der Gruppe der Geburtsjahre 1953 bis 1962 stammen nahezu jeder Fünfte der mehr als sechs Millionen Gering-Alphabetisierten. Bei den Jahrgängen 1963 bis 1972 sind es 25 Prozent. Aus der jüngsten Gruppe der Geburtsjahre 1993 bis 2000 kommen hingegen nur zwölf Prozent. Die Studie widerspricht damit dem weitverbreiteten Vorurteil, dass die Schule früher Rechtschreibung und Lesen besser vermittelt habe. Die Vorgängeruntersuchung aus dem Jahr 2011 war zu dem Ergebnis gekommen, dass seinerzeit hierzulande 7,5 Millionen Menschen nur geringe Lese- und Schreibfähigkeiten haben – also etwa 1,3 Millionen mehr als heute.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) erklärte den Rückgang damit, dass heute viel mehr Kinder die Schule länger besuchen und beispielsweise nicht nach acht Jahren abgehen. „Das ist ein Erfolg unseres Bildungssystems“, meinte die CDU-Politikerin.
Mehr als die Hälfte der Menschen, die kaum Lesen und Schreiben können, hat Deutsch als Muttersprache. 47,4 Prozent sind Zuwanderer. Ihr Anteil ist seit der Vorgängerstudie nicht gesunken. „In den nächsten Jahren müssen wir noch stärker Menschen mit Migrationshintergrund beachten“, mahnte Karliczek. Sie will deshalb bei der Erarbeitung der nationalen Weiterbildungsstrategie darauf pochen, dass noch mehr Kurse angeboten werden. „Es ist wichtig, dass wir dann auch weiter in Kampagnen unterwegs sind“, erklärte die Ministerin. Die Werbespots unter dem Titel „Schreib Dich nicht ab“ hatten dafür gesorgt, dass das Thema in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurde. Bund und Länder setzten sich mit der nationalen Dekade für Alphabetisierung dafür ein, dass Erwachsene richtig Lesen und Schreiben lernen. Sie läuft noch bis 2026.
Zwei Drittel der Gehandicapten haben Arbeit
Trotz ihrer Beeinträchtigung schlagen sich die Gehandicapten durch das Berufsleben. Knapp zwei Drittel von ihnen haben Arbeit. Dazu trägt auch der lange Aufschwung bei, der für einen hohen Personalbedarf sorgt. Weil sie wegen ihres Mankos oft keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss haben, ist die Sorge vor Arbeitslosigkeit höher. Von den Betroffenen sorgen sich 23 Prozent um ihre Stelle, während es unter allen Erwerbstätigen nur halb so viele sind. Dem Aufstieg im Beruf sind den Kollegen, die die schriftliche Kommunikation kaum beherrschen, enge Grenzen gesetzt. Sie nehmen auch seltener an Weiterbildungen teil, um sich qualifizieren.