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Stresstest der EU: Europas Atomkraftwerke müssen dringend nachrüsten

Stresstest der EU

Europas Atomkraftwerke müssen dringend nachrüsten

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    Der Stresstest der EU hat ergeben, dass bei fast allen europäischen Atomkraftwerken Nachholbedarf besteht.
    Der Stresstest der EU hat ergeben, dass bei fast allen europäischen Atomkraftwerken Nachholbedarf besteht. Foto: dpa

    Auch für AKW in Norddeutschland sehen die EU-Experten Handlungsbedarf. Die Betreiber sollten in den Anlagen Erdbebenwarnsysteme installieren, schreiben die Fachleute in dem am Donnerstag in Brüssel vorgelegten Bericht.

    Der Test sei "kein Blankoscheck, aber auch kein automatischer Hebel für den Abschaltzwang", sagte EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Die EU hatte die Tests als Reaktion auf das Unglück im japanischen Fukushima gestartet. Derzeit setzen 14 von 27 EU-Staaten auf Kernenergie. Umweltschützer und Grüne erneuerten ihre Forderung nach sofortiger Abschaltung aller Kernkraftwerke.

    Norddeutsche Anlagen nicht erdbebensicher

    Die Autoren bemängeln in punkto Erdbebenwarnsysteme sechs Anlagen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, von denen nur noch Brokdorf, Emsland und Grohnde aktiv sind. Betreiber und Experten verweisen darauf, dass kaum noch Anlagen in erdbebengefährdeten Gebieten in Deutschland betrieben werden. So wurde etwa das umstrittene hessische Atomkraftwerk Biblis im erdbebengefährdeten Rheingraben vom Netz genommen.

    Von den 145 Reaktoren in den EU-Ländern haben laut Bericht quasi alle Lücken. In 121 Reaktoren müssten Erdbebenmessgeräte installiert oder nachgerüstet werden. Bei 32

    Altmaier will Konsequenzen ziehen

    Beim EU-Gipfel am 18./19. Oktober werden sich die Staats- und Regierungschefs mit den Ergebnissen befassen. Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) versprach in Wien, Schlussfolgerungen aus dem Bericht zu ziehen: "Der Stresstest darf nicht einfach ad acta gelegt werden. Die Ergebnisse müssen Konsequenzen nach sich ziehen."

    Gefahrenquellen für Atomkraftwerke

    In Japan stand ein Erdbeben mit anschließendem Tsunami am Anfang der Ereignisse, die zur Atomkatastrophe in Fukushima führten. Auch in Europa gibt es Meiler in seismisch aktiven Zonen, etwa im französischen Fessenheim direkt an der deutschen Grenze.

    Ein Tsunami wie in Japan ist in Europa eher unwahrscheinlich. Allerdings sind auch hierzulande Überflutungen denkbar. Wasser ist für Atomanlagen gefährlich, weil es die aus Dieselgeneratoren und Batterien bestehende Notstromversorgung lahmlegen kann. Deiche gehörten zum wichtigsten Schutz gegen diese Gefahr, heißt es in einem aktuellen Arbeitspapier der Vereinigung der Westeuropäischen Atomaufsichtsbehörden (WENRA).

    Das WENRA-Papier zählt als Risiken auch Sturm und starke Regenfälle sowie die Kombination mehrerer Extremwetterlagen auf. Atomexperte Heinz Smital von Greenpeace sieht auch in Waldbränden eine Gefahr, die sich beispielsweise im vergangenen Sommer bei den Großfeuern in Russland gezeigt habe. Denn der dichte Rauch könne dazu führen, dass Notstromdiesel-Generatoren wegen Sauerstoffmangels nicht ansprängen.

    Terrorangriffe sind deshalb so brisant, weil sich Täter gezielt den Kern einer Atomanlage, den Reaktordruckbehälter, vornehmen könnten. Dadurch ist nach den Worten von Atomexperten Smital «eine Zerstörung möglich, die sonst nicht erreicht werden kann». Bei einem Angriff könnten in kürzester Zeit riesige Mengen Strahlung frei werden, während sich die Freisetzungen in Tschernobyl und Fukushima vergleichsweise begrenzt und langsam abgespielt hätten.

    Das Risiko von Cyberattacken auf Atomkraftwerke geriet 2010 durch den Computerwurm Stuxnet ins Rampenlicht. Stuxnet wurde laut «New York Times» von den USA und Israel entwickelt, um das iranische Atomprogramm zu sabotieren. Dass private Hacker einen atomaren GAU auslösen können, hält Frank Rieger vom deutschen Chaos Computer Club für «ziemlich unwahrscheinlich». Bislang seien solche Risiken aber offenbar noch nicht detailliert erforscht, meint Rieger.

    Die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes auf ein Atomkraftwerk lässt sich zumindest annähernd vorhersagen, indem Flugrouten, allgemeine Unfall-Zahlen sowie die potentielle Trefferfläche ins Kalkül gezogen werden. Die kuppelartige Form des Betonmantels vieler Reaktorgebäude sorgt dafür, dass die Trefferfläche für einen möglichen Frontalaufprall gering ausfällt.

    Die Höhe eines Risiko bemisst sich nach zwei Dingen: der Wahrscheinlichkeit, dass das befürchtete Ereignis eintritt, und dessen Schwere. Das Risiko kann also auch dann hoch sein, wenn das Ereignis sehr unwahrscheinlich ist, aber die Folgen immens wären. Ob allerdings auch extrem unwahrscheinliche Ereignisse - wie beispielsweise ein Satellitenabsturz - bei den europäischen Akw-Tests eine Rolle spielen sollten, sei letztlich keine wissenschaftliche, sondern eine gesellschaftspolitische Frage, hieß es aus deutschen Fachkreisen.

    Auf die Atomanlagenbetreiber in der gesamten EU würden für alle aktiven Meiler Kosten von 10 bis 25 Milliarden Euro zukommen. Brüssel kann allerdings keine Nachrüstungen vorschreiben.

    Um auch für Schadensfälle finanziell gewappnet zu sein, sollen sich Betreiber wie E.ON oder RWE versichern - was ebenfalls auf die Strompreise durchschlagen könnte. "Mein Auftrag ist nicht, durch Sicherheitsdumping Kernkraftstrom billig zu machen", sagte Oettinger. Ob die Betreiber die Empfehlungen beachteten, möchte die EU kontrollieren.

    Altmaier: Auch Frankreich soll nachrüsten

    Altmaier sagte, auch Nachbarländer müssten aktiv werden. Es sei "wenig vermittelbar, wenn Deutschland jetzt noch stark nachrüstet und Frankreich nicht, obwohl die Atomkraftwerke dort noch 20 Jahre in Betrieb sind."

    Die Fachleute kritisieren für quasi alle französischen Standorte die Lagerung von Unfallausrüstung und sehen Mängel bei der Prüfung von Erdbeben- und Flutgefahren. Das gilt auch für Frankreichs ältestes Atomkraftwerk Fessenheim direkt am Rhein, das bis Ende 2016 stillgelegt wird.

    In Deutschlands westlichem Nachbarland Niederlande weist das AKW in Borssele - wie die meisten französischen Werke - vier Kritikpunkte von der Umsetzung der Leitlinien bis zur Lagerung auf. Wenig zu beanstanden hatten die Experten bei den belgischen Reaktoren in Doel und Tihange.

    Vor allem in Osteuropa besteht dringender Handlungsbedarf

    Mehr Anlass zur Kritik gab es in den ehemaligen Ostblockstaaten Tschechien und Bulgarien, wo bei allen geprüften AKW Schutzvorrichtungen gegen Gasexplosionen nach schweren Unfällen fehlen. Das gilt auch für Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Diesen Punkt bemängelt die EU-Kommission auch in Schweden, Spanien und Großbritannien.

    Besonders schwerwiegende Mängel belegt der EU-Report für zwei Werke - Olkiluoto in Finnland und Forsmark in Schweden -, wo die Betreiber weniger als eine Stunde Zeit haben, um nach einem kompletten Stromausfall und/oder einem Ausfall der Kühlsysteme die Sicherheitssysteme wieder hochzufahren. Schwedens Atomaufsicht wies die Kritik zurück.

    Der Greenpeace-Atomexperte Tobias Riedl nannte die Ergebnisse alarmierend. "Bei einer strengeren Überprüfung wäre das Urteil für die meisten Reaktoren vernichtend ausgefallen." So seien die Alterung der Reaktoren und bestimmte Unfallabläufe nicht berücksichtigt worden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderte den Sofortausstieg aus der Atomkraft. (dpa)

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