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Strafvollzug: Kalter Entzug im Knast: Häftlingen wird Drogenersatz verweigert

Strafvollzug

Kalter Entzug im Knast: Häftlingen wird Drogenersatz verweigert

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    Heroinsüchtige in bayerischen Gefängnissen bekommen seltener als anderswo Ersatzstoffe.
    Heroinsüchtige in bayerischen Gefängnissen bekommen seltener als anderswo Ersatzstoffe. Foto: Felix Kästle, dpa (Symbolbild)

    Zu Weihnachten wünscht sich Marco Bauer Subutex, nur ein paar Milligramm, eine unscheinbare Tablette. Sie soll die Erlösung bringen. Subutex ist ein starkes Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide, ein Heroinersatz. Wer im Gefängnis Dinge anschaffen will, zahlt in Tabakpackungen. Oder in Subutex-Tabletten. Sie werden halbiert, geviertelt, geachtelt, gar gesechzehntelt. Zehn Minuten muss man sie unter der Zunge auflösen, dann ist der Heroinhunger gestillt.

    Es ist Anfang Dezember, in Kaisheim im Kreis Donau-Ries fällt der erste Schnee des Winters, im Flur der Justizvollzugsanstalt brennen bereits die Lichter am Christbaum. Ein paar Meter weiter, in einem kleinen Besucherraum mit Trennscheibe und Videoüberwachung, brennt Marco Bauer auf den nächsten Schuss. Ein Mittvierziger, seit 28 Jahren heroinabhängig, seit fünf Jahren Hepatitis-C-krank. Die langen, dünnen Haare trägt er nach hinten, auf dem Unterarm ein Kreuz-Tattoo, im linken Ohrläppchen zwei Ringe.

    Subutex ersetzt Heroin.
    Subutex ersetzt Heroin. Foto: Daniel Karmann, dpa

    Bauer, der eigentlich anders heißt, will seine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die er mit vielen Menschen teilt, denen Heroin erst das Leben gekapert und dann die Freiheit genommen hat. Und die hinter Gittern vor der Frage stehen: Wie komme ich jetzt an Stoff?

    In Freiheit versorgen Arztpraxen Süchtige mit legalem Stoff

    Eine Richtlinie der Bundesärztekammer definiert Opiatabhängigkeit als „schwere chronische Krankheit“, die in der Regel einer lebenslangen Behandlung bedarf. Eine sogenannte Substitutionstherapie mit Ersatzstoffen wie Methadon oder Buprenorphin sei für die Mehrheit der Süchtigen das Mittel erster Wahl. In ganz Deutschland gibt es spezialisierte Praxen, die Abhängige sicher und legal mit Stoff versorgen. Doch in Haft gibt es nur den Anstaltsarzt. Entscheidet er sich gegen eine Substitution, bleibt dem Gefangenen nur der Heroinentzug. Kalt im Knast. Als würde man einem Diabetiker kein Insulin geben.

    Unsere Redaktion hat hunderte Seiten an Studien, Gerichtsakten und anderen Dokumenten ausgewertet, mit Anwälten, Suchtexperten, Ärzten und Inhaftierten gesprochen. Mehr als ein halbes Jahr Recherche zeigen: Gewisse Praktiken im bayerischen Justizvollzug widersprechen dem medizinischen Stand der Dinge und sind gefährlich nah an einer Verletzung der Menschenrechte. Statt zu resozialisieren, treiben sie den Strudel der Heroinabhängigkeit weiter an, Aggression, Infektion, Beschaffungskriminalität. Junkies bleiben Junkies, Kriminelle bleiben Kriminelle, eine Gefahr für die Gesellschaft.

    Methadon ist einer der bekanntesten Stoffe zur Substitution.
    Methadon ist einer der bekanntesten Stoffe zur Substitution. Foto: Tino Notz, Fotolia

    Hans Wolff hat beruflich mehr als 100 Gefängnisse in mehr als 20 Ländern gesehen. Der Vizepräsident des europäischen Antifolter-Komitees CPT sagt: „Die Vergleiche in Deutschland zeigen sehr klar, dass die Substitutionspraktiken in bayerischer Haft viel restriktiver sind.“ Als Inspekteure sich 2015 in deutschen JVAs umschauten, stellten sie massive Unterschiede fest. In Norddeutschland war Substitution an der Tagesordnung, in Bayern galt die Zeit im Knast als Gelegenheit zum Entzug. Dies verstoße, so das Komitee in einem Bericht, gegen den Grundsatz der gleichwertigen Versorgung. Den Behörden im Freistaat empfahl es, „ihren Ansatz zur Behandlung drogenabhängiger Gefangener zu überprüfen“.

    Bekommt Marco Bauer keine Opiate, quälen ihn seine depressiven Gedanken: „Ich funktioniere nicht richtig.“ In ellenlangen Briefen, säuberlich linkskursiv geschrieben, die Seiten nummeriert, schildert er, wie er dem braunen Zucker, so der Szenename von Heroin, verfiel.

    Bauer wächst auf dem Land auf. Die Familie hat Rotwild, einen Fischweiher, 50 Schafe. Der kleine Junge kümmert sich um die Tiere, lernt Horn und Trompete. Behütet ist die Kindheit trotzdem nicht. Die Eltern sind alkoholabhängig, der Vater ein gewalttätiger Patriarch, der den Sohn mit einem Schlauch oder Haselnussstecken blau schlägt.

    Heroin verschafft ihm Wärme und Geborgenheit

    Mit 13 raucht Bauer den ersten Joint, eine Bauwagen-Runde. Mit 16 reißt er von zu Hause aus, landet auf der Straße, rutscht in die Augsburger Junkieszene. Haschisch, LSD, Ecstasy, Speed, Kokain, Heroin, Rohypnol. Die Mauer war gerade gefallen, Rauschmittel aus dem Osten überschwemmten die Straßen. „Probleme gab’s keine. Es gab Drogen, Partys und Mädchen“, so denkt er an diese Zeit zurück.

    Heroin wird zu seiner Droge. Sie verschafft ihm Wärme und Geborgenheit – und einen Platz im Abseits der Gesellschaft. Bauer dealt, um die Sucht zu finanzieren. Die Beerdigungen, auf die er geht, häufen sich. Er wird Vater von zwei Kindern und Ex-Freund der Mütter. Sein Vorstrafenregister passt bald nicht mehr auf eine DIN-A4-Seite. Heute zählt es 17 Eintragungen, 14 wegen Drogenhandels oder -besitzes, gut zwölf Jahre Knast, mehr als ein Viertel seines Lebens. In Kaisheim verbüßt er eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Die Gefängnispforte ist zur Drehtür geworden. Eine klassische Drogenbiografie.

    Laut Drogenbericht der Bundesregierung von 2019 haben gut 44 Prozent aller Häftlinge eine stoffgebundene Suchtproblematik. 20 bis 30 Prozent sind anderen Studien zufolge opiatabhängig. Kaisheims ehemaliger Anstaltsleiter ging 2016 im Gespräch mit unserer Redaktion gar davon aus, dass drei Viertel seiner damals 620 Häftlinge mit Rauschgift zu tun haben.

    Die JVA Kaisheim hat 50 Therapieplätze für Süchtige.
    Die JVA Kaisheim hat 50 Therapieplätze für Süchtige. Foto: Ulrich Wagner

    „Jede Haftanstalt in Deutschland hat ein Drogenproblem, mehr oder minder sichtbar“, sagt Heino Stöver, Direktor des Instituts für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences. Die Schmuggeltaktiken sind vielfältig: Päckchen werden geschluckt oder über den Gefängniszaun geworfen. Drogen in Kondomen oder Lippenpflegestiften anal eingeführt. Bauer kommt in Kaisheim ein- bis zweimal die Woche an Subutex. Horrend teuer das Zeug, sagt er. Und zu wenig. In Freiheit konsumierte er täglich.

    Seit der Föderalismusreform 2006 ist Strafvollzug Ländersache. Telefonate oder Besuche sind in bayerischen Gefängnissen viel strenger gehandhabt als anderswo. Und auch gegen Drogen fährt der Freistaat harte Geschütze auf: In acht JVAs wird derzeit ein Drohnenabwehrsystem getestet. An die Zellenfenster in Kaisheim wurden jüngst zusätzliche Vorsatzgitter angebracht.

    Unterlagen zeigen auch: Die dortigen Beamten öffneten zwischenzeitlich systematisch Verteidigerpost zur oberflächlichen Sichtung. In Anwaltskreisen gelten solche Briefe als heilig. Sie seien immer wieder zum Drogenschmuggel missbraucht worden, rechtfertigt Anstaltsleiter Peter Landauer die Praxis. Die Strafvollstreckungskammer in Nördlingen wertete sie als rechtswidrig. Auf Anordnung des Justizministeriums wurde sie im Januar 2021 eingestellt.

    Der Häftling muss sich den Stoff anderweitig besorgen

    Marco Bauers schwere Opiatsucht ist ärztlich nachgewiesen. Die Richterin des Amtsgerichts Augsburg empfiehlt im jüngsten Urteil eine baldige „stationäre substitutionsgestützte Drogenentziehungstherapie“. Vor Haftantritt wurde er in einer Praxis substituiert. Entsprechende Atteste liegen unserer Redaktion vor. Gemäß der Bundesärztekammer-Richtlinie sind Behandlungsabbrüche gesundheitsgefährdend. Haftanstalten sollen deshalb die Kontinuität der Therapie sicherstellen. Dennoch brach Kaisheims Anstaltsarzt die Substitution ab. Lediglich eine kurze Behandlung vor Haftentlassung sei möglich, schreibt er in einer Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft Augsburg. Nicht jeder Wunsch könne sofort erfüllt werden. Es gebe personelle Kapazitätsgrenzen in der Krankenabteilung der JVA. Eine Therapie nach der Haft wäre vielmehr ein Zeichen für „ausreichende intrinsische Motivation“ und dafür, dass Bauer „nicht nur primär darum bemüht ist, seine Haft zu verkürzen“. Sein Schmuggel hinter Gittern zeuge mehr von „der großen kriminellen Energie als vom Leidensdruck“.

    Man könnte auch sagen: Bauer wird nicht substituiert, also muss er sich den Stoff anderweitig besorgen. Dafür gibt es Konsequenzen. Wegen einer positiven und einer verweigerten Urinkontrolle landete er zweimal für eine Woche im Bunker, einer Isolationszelle im Keller, kein Tageslicht, kein TV. Der Augsburger Rechtsanwalt Thomas Galli kennt solche Fälle. 15 Jahre hat er als Abteilungs- und Anstaltsleiter im Strafvollzug gearbeitet, darüber drei Bücher geschrieben. „Die Leute saßen vor mir im Disziplinarverfahren und sagten: Was wollen Sie denn? Ich bin suchtkrank“, erinnert er sich. „Trotzdem schickten wir sie in den Arrest. Eigentlich ist das menschlich nicht vertretbar.“

    Tausende Häftlinge in ihren Zellen sind opaitabhängig.
    Tausende Häftlinge in ihren Zellen sind opaitabhängig. Foto: Alexander Kaya

    Juli 2016: In der JVA Würzburg treten 40 Gefangene in einen Hungerstreik, um sich für eine Substitutionsbehandlung starkzumachen. Der Aufstand dauert zwölf Tage.

    Oktober 2019: Weil ihr heroinabhängiger Bruder in der JVA Bernau nicht substituiert wird, schmuggelt eine Frau zwei Subutex-Tabletten in die Anstalt. Mitte Juni wird sie sich dafür vor dem Amtsgericht Rosenheim verantworten müssen.

    Fälle wie diese zeigen: Der Suchtdruck der rund 3000 Opiatabhängigen in bayerischer Haft ist enorm. Substituiert werden laut Justizministerium aktuell 687 Gefangene. Die Voraussetzungen dafür seien in allen Anstalten gegeben, die Substitutionstherapie „fester Bestandteil der Krankenbehandlung“. Dennoch kommt sie in 16 von 36 bayerischen Anstalten überhaupt nicht zum Einsatz. In Bayern muss es noch hunderte Marco Bauers geben.

    2006 griff der Gerichtshof für Menschenrechte ein

    Es geht auch anders. Das zeigen Beispiele aus Nordrhein-Westfalen, Bremen und Hamburg, wo gut die Hälfte aller Heroinabhängigen in Haft substituiert werden; dieselbe Quote wie in Freiheit. Auch die bayerischen JVAs Amberg und Straubing gelten als Vorreiter. Für die Substitution wurden dort externe Mediziner angestellt. Zusammen substituieren die beiden Anstalten 200 Häftlinge. Mitverantwortlich für die Unterschiede ist die ärztliche Autonomie. Kaisheim-Chef Landauer teilt mit: „Die Entscheidung über die Substitution trifft der Anstaltsarzt im jeweiligen Einzelfall nach eigener fachlicher Einschätzung.“ Suchtexperte Stöver sagt: „Viele Ärzte denken, sie hätten eine Freiheit in der Behandlungsweise. Aber die ist begrenzt. Tatsächlich müssten sie gut belegen, wieso sie jemanden nicht behandeln.“

    2016 verklagte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Deutschland wegen des Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention, Artikel 3, Folterverbot. Ein Schock für die Behörden. Einem Häftling in Kaisheim war die Substitution verweigert worden, ohne eine externe ärztliche Zweitmeinung einzuholen.

    Seitdem bewegt sich auch das rigide bayerische Vollzugssystem. Die Zahl der Anstaltsärzte mit einer suchtmedizinischen Qualifikation ist gestiegen, ebenso die Substitutionsquote. Sogar in Kaisheim. Laut Anstaltsleiter Landauer von null vor 2014 auf aktuell 43. „Die derzeit 50 bestehenden Substitutionsplätze können eine ausreichende Versorgung gewährleisten“, sagt er.

    Maßregelvollzug in Bayern

    Im Maßregelvollzug werden psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter untergebracht, die nicht oder nur vermindert schuldfähig sind.

    Während verurteilte Straftäter ihre Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten verbüßen, findet der Maßregelvollzug in psychiatrischen Kliniken und Entziehungsanstalten statt.

    Ziel ist, die Patienten zu therapieren und die Gesellschaft vor ihnen zu schützen.

    Die Dauer der Unterbringung ist nach § 63 Strafgesetzbuch (StGB) nicht befristet. Allerdings muss die Unterbringung mindestens einmal im Jahr überprüft werden. Im Schnitt bleiben die Patienten sechs Jahre in der Psychiatrie für Straftäter.

    In Bayern sind die Bezirke für den Maßregelvollzug zuständig. In 14 Bezirkskliniken waren zuletzt 2704 Menschen untergebracht.

    Dennoch: Bayernweit kommt es immer wieder zu Beschwerden. Häufig versanden sie. „Um nachzuweisen, dass ein Patient substituiert werden muss, braucht es einen Experten, Geld, einen Anwalt, es muss schnell gehen. Diese Mittel haben Inhaftierte nicht“, sagt Hans Wolff vom Antifolter-Komitee. „Wir haben uns lange die Finger wund geschrieben über die bayerische Praxis, zu Inhaftierungsbeginn Substitutionsbehandlungen abzubrechen. Nach dem EGMR-Urteil hat sich etwas getan. Aber noch ist Bayern weit von einer flächendeckenden Versorgung entfernt“, kritisiert Suchtforscher Stöver.

    Bekommt Marco Bauer weiterhin keine Substitution in Haft, landet er statistisch gesehen zu über 70 Prozent wieder hinter Gittern. Er ist anfälliger für Beschaffungskriminalität und für entzugsbedingte Gewalt. Die Gefahr steigt, an einer Überdosis in Haft oder kurz nach Entlassung zu sterben, so wie 2016 sein Bekannter Toni in Kaisheim, so wie im Vorjahr nach Zahlen des Landeskriminalamts 18 Häftlinge in ihren ersten zwei Monaten in Freiheit. Er wird wahrscheinlicher zur Spritze greifen und riskieren, andere mit Hepatitis C zu infizieren. Die Drehtür wird sich weiterdrehen, Bauer ein Gesellschaftsrisiko bleiben.

    Ob RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt, "Al Capone vom Donaumoos" Theo Berger oder der Attentäter von Halle : In der Region saßen einige Prominente Häftlinge ein.
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    Substitutionstherapien werden nicht alle Probleme lösen, nicht jeden drogenabhängigen Häftling zu einem Max Mustermann machen. Aber, sagt Stöver: „Es ist die einzige Sucht, gegen die wir ein gutes Mittel haben. Das gibt es nicht bei Alkohol, Cannabis oder Kokain.“ Wolff geht noch weiter: „70 bis 90 Prozent der Leute, die sich Drogen spritzen, haben Hepatitis C. Das ist auf dem Weg, eine Volkskrankheit zu werden. Wer in die medizinische Versorgung von Gefängnissen investiert, investiert auch in die Gesundheit der gesamten Bevölkerung.“

    Mitte Januar reißt der Kontakt zu Marco Bauer ab. Ein Brief unserer Redaktion sei vom Abteilungsleiter abgefangen worden. „Meld mich dann“, schreibt er noch. Er wird sich nicht mehr melden. In einem seiner letzten Briefe zeichnet Bauer seine Zukunft: „Auch ein Junkie hat noch Träume.“ Vor sich sieht er ein kleines Mietshäuschen, das er renovieren will, einen Garten mit Platz für ein Lagerfeuer, seine beiden Kinder um sich und einen Welpen. Eine Arbeitsstelle. Und einen Substitutionsplatz. Er und clean sein? „In diesem Leben nicht mehr.“

    Hören Sie sich dazu auch unsere Podcastfolge über das (un)gerechte Leben in deutschen Gefängnissen an:

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