Die Weltsensation, der zelebrierte Triumph, dann das Stolpern über Papieraufheller und Polyesterfasern. Das Erhabene und der Absturz ins Bodenlose. Das ist es. „Ein Eimer brauner Jauche“ nannte jüngst der Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn die Hitler-Tagebücher. „Jauche“, die vor heute exakt 30 Jahren als „Weltsensation“ präsentiert wurde. Wie den Fußball-Weltpokal reckte der Star-Reporter Gerd Heidemann eine schwarze Kladde mit den vermeintlichen täglichen Aufzeichnungen des Führers in das Blitzlichtgewitter hunderter Fotografen.
Das Erhabene und der Absturz. Imposante 62 Tagebuch-Bände aus der Feder des – wie sich später herausstellte – genialen Fälschers Konrad Kujau hatte das Magazin erworben. Für 9,3 Millionen Mark. Die Auflage, die 1983 knapp jenseits der Eine-Million-Grenze lag, schoss auf nie erreichte 2,2 Millionen Exemplare in die Höhe.
Einer derjenigen, die kurz darauf den Humbug entlarvten, war der Chemotechniker Günter Schmitz aus Leverkusen. Der heute 78-Jährige wies anhand eines kleinen Schnipsels nach, dass Stoffe in dem Papier enthalten waren, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet wurden. Das war längst nicht der einzige Schwachpunkt der Fälschung: Neben den historischen Ungereimtheiten – der falsche Hitler äußerte scharfe Kritik an der Vernichtung der Juden – gab es verräterische Abweichungen vom originalen Schriftbild des Diktators. Ganz zu schweigen von den Initialen auf den Bänden, die FH lauteten. „Führer Hitler“ oder „Führer-Hauptquartier“, so lautete die krude Erklärung für den groben Schnitzer des Fälschers Kujau. Kurz: Man hätte es wissen können – wenn man denn gewollt hätte.
Hitlers Tagebücher: Gerüchte halten sich bis heute
Die nun in der Zeit erschienenen Erinnerungen des damals frischgebackenen stellvertretenden Chefredakteurs Felix Schmidt geben Einblick in die seinerzeit auf- und abgedrehte Atmosphäre beim Stern. Schmidt beschreibt einen Teufelskreis aus trunkener Euphorie auf Seite der Journalisten und Geldgier in der Verlagsetage.
„Der Führer wird immer mitteilsamer“ – dieser Gedanke ging Schmidt durch den Kopf, als Heidemann in Häppchen immer weitere Tagebücher ankündigte – zu ständig steigenden Preisen, versteht sich. Die Legende, auf die Heidemann hereinfiel, war immerhin clever konstruiert: Die Aufzeichnungen Hitlers seien aus einer kurz vor Kriegsende im sächsischen Börnersdorf abgestürzten Ju 52 geborgen, hieß es. Tatsächlich ist dort eine Maschine dieses Typs verunglückt.
Wer Zweifel anmeldete, wurde als Defätist oder Kleingeist abgestempelt. „Wer so viel Geld lockermacht, der weiß, warum er es tut“ – mit diesem denkwürdigen, tausendfach widerlegten Satz verteidigte der damalige Chefredakteur Peter Koch den Umstand, dass der Verlag den Tagebuch-Deal eingefädelt hatte, ohne die Redaktion zu informieren.
Wer die Sache hingegen befeuerte, galt als zupackend. Da war kein Platz für Nuancen. Die Geschichte der Nazi-Diktatur müsse „in großen Teilen neu geschrieben werden“, erklärte der Stern seinen Lesern am 28. April 1983, als die erste Folge der Tagebücher erschien.
Auf Stern-Gate folgt Schtonk
Dabei gab es für jeden an der Person Hitler interessierten Zeitgenossen offensichtliche Gründe, an dem Coup zu zweifeln. Der Historiker Magnus Brechtken machte 1983 gerade sein Abitur. In seinem Leistungskurs Geschichte wurde natürlich eifrig diskutiert. „Wir haben uns allesamt gefragt: Kann das sein, dass solche Tagebücher 40 Jahre später auftauchen, ohne dass jemand von deren Existenz gewusst hat?“ Hitler, so viel wusste man längst, galt als schreibfaul. Als Missionar, der ungern und wenn überhaupt nur über wenige Stunden alleine blieb. Wann soll dieser Mann also, von Mitstreitern und Vertrauten völlig unbemerkt, hunderte von Tagebuchseiten gefüllt haben?
Das Erhabene und der Absturz. Der Massenmörder Adolf Hitler hat weder ein Poesiealbum geschweige denn ein Tagebuch geführt. Eine Tatsache, die der Stern nach einem vergeblichen, im Rückblick tragi-komischen Abwehrkampf am 5. Mai 1983 einräumen musste.
Was bleibt 30 Jahre nach dem größten deutschen Medienskandal? Nicht viel. „Für die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus hatte die Affäre kaum Bedeutung, für den Stern schon. Der Ruf des Magazins war ziemlich ruiniert“, fasst der Historiker Brechtken trocken zusammen.
Doch Moment. Der wunderbare Kinofilm „Schtonk!“ erzählt das Geschehen auf die einzig mögliche Weise: als Satire. Ein Tabubruch. Denn während Charlie Chaplin schon 1940 in seinem Film „Der große Diktator“ Hitler durch den Kakao zog, wurde die Frage, ob man sich über Hitler lustig machen dürfe, im Deutschland der 80er Jahre meist mit einem lauten „Nein“ beantwortet. „Schtonk“ bricht diese Ernsthaftigkeit. „Das war neu und ich finde das auch sehr in Ordnung, eine beeindruckende Leistung“, sagt Brechtken zu dem Film von Helmut Dietl mit Stars wie Uwe Ochsenknecht und Götz George. Um dann ernst hinzuzufügen: „Die Menschen, die das Dritte Reich bewusst miterlebten, sterben aus. Die nachfolgenden Generationen müssen für sich stets neu verhandeln, wie sie sich dieser Zeit nähern.“