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Datenanalyse: So oft werden Menschen zum Opfer rechter Gewalt

Datenanalyse

So oft werden Menschen zum Opfer rechter Gewalt

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    Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke starb am 2. Juni 2019 mutmaßlich durch den Angriff eines Rechtsextremisten.
    Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke starb am 2. Juni 2019 mutmaßlich durch den Angriff eines Rechtsextremisten. Foto: Swen Pförtner, dpa

    Knapp eine Woche ist es her, dass der Afroamerikaner George Floyd bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Hunderttausende Menschen sind seitdem auf die Straße gegangen, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen - in den USA und an vielen anderen Orten auf der Welt. Auch in Deutschland wird seitdem wieder verstärkt über Rassismus und Rechte Gewalt diskutiert. Eine Auswertung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) zeigt: Nicht nur die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gibt Anlass zur Besorgnis. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern sind Rassismus und Antisemitismus präsent. Berlin weist mit 10,7 die meisten Angriffe pro 100.000 Einwohner aus. Die Tendenz ist dort im dritten Jahr in Folge steigend.

    Rassismus und Antisemitismus: Immer mehr Straftaten in Berlin

    Die im VBRG zusammengeschlossenen Beratungsstellen haben für das Jahr 2019 eine eigene Erhebung in acht Bundesländern durchgeführt, die sich von den offiziellen Werten des Bundeskriminalamts (BKA) unterscheidet. Konkret liegen Zahlen für die fünf ostdeutschen Länder sowie Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vor. Das Ergebnis: In den acht Bundesländern gab es 1347 rechts, rassistisch, beziehungsweise antisemitisch motivierte Angriffe. Für diese Bundesländer bedeutet das im Schnitt, dass täglich mindestens fünf Menschen Opfer solcher Taten wurden. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter den 1982 direkt Betroffenen ist dabei auf 14 Prozent gestiegen.

    Insgesamt ging die Zahl der registrierten rechten Gewalttaten damit im Vergleich zum Jahr 2018 um zehn Prozent zurück. Die Ausprägung ist jedoch in den einzelnen Bundesländern stark unterschiedlich. 10,7 Angriffen pro 100.000 Einwohnern bei steigender Tendenz in Berlin stehen beispielsweise 1,1 Angriffe pro 100.000 Einwohner bei sinkender Tendenz in Nordrhein-Westfalen gegenüber. Die ostdeutschen Länder Sachsen-Anhalt (6,0 Angriffe pro 100.000 Einwohner), Brandenburg (5,6), Sachsen (5,5), Mecklenburg-Vorpommern (5,5) und Thüringen (5,0) liegen dabei weit über den Werten der westdeutschen Flächenländer Schleswig-Holstein (1,9 ) und Nordrhein-Westfalen.

    Auffällig ist die Diskrepanz der Zahlen des BKA zu denen des VBRG. Im Jahr 2018 zählte das BKA 871 politisch motivierte rechte Straftaten für das gesamte Bundesgebiet, während die Opferberatungsstellen allein in den ostdeutschen Bundesländern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein auf 1495 rechte Angriffe kamen. „Wir hoffen, dass die Diskrepanz zwischen den durch die Strafverfolgungsbehörden [...] registrierten Angriffen und den Zahlen der Opferberatungsstellen in diesem Jahr geringer ausfällt als im Vorjahr", sagt dazu Judith Porath vom VBRG.

    Antisemitismus-Beauftragter Klein: "Da, wo weniger Ausländer und Juden leben, sind die Vorurteile besonders groß"

    Felix Klein ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Er sagt: "Die Diskrepanz zwischen Ost und West ist aus meiner Sicht nach wie vor auch eine Spätfolge der mangelnden politischen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in der DDR." Es zeige sich ein bekanntes Phänomen: „Da, wo deutlich weniger ausländische und jüdische Menschen leben, sind die Vorurteile besonders groß.“

    Für die vielen registrierten rechten Gewalttaten in Berlin hat Klein zwei Erklärungsansätze: "Die Anzeigebereitschaft ist offenbar höher als anderswo, unter anderem, weil die jüdische Gemeinde sehr aktiv dazu aufruft, als Betroffener zur Polizei zu gehen. Hinzu kommt, dass es in Berlin zahlreiche Orte gibt, die für die rechte Szene eine hohe Symbolkraft besitzen, darunter zum Beispiel das Brandenburger Tor. Jede Tat ist eine Tat zu viel", sagt Klein.

    Rechte Gewalt: Drei Tote bei Anschlag in Halle und Fall Lübcke

    Das häufigste Motiv der Angriffe war wie in den Vorjahren Rassismus (841 Fälle). Sie richteten sich im überwiegenden Teil gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung und Schwarze. Dahinter folgen Taten gegen politische Gegner (221) und strafbare Handlungen wegen der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität (134).

    2019 starben drei Menschen bei antisemitisch beziehungsweise rassistisch motivierten Anschlägen: Neben dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, den der festgenommene Rechtsextremist Stephan Ernst nach derzeitigem Ermittlungsstand begangen haben soll, kamen zwei Menschen bei einem Anschlag in Halle (Saale) am 9. Oktober ums Leben. Mehr als 50 Menschen überlebten in einer Synagoge nur durch glückliche Umstände den antisemitischen Anschlag an Yom Kippur. Der Attentäter erschoss die Passantin Jana L. in unmittelbarer Nähe der Synagoge, bevor er den nahen „Kiez Döner" stürmte und dort den Malerlehrling Kevin S. tötete. Im laufenden Jahr erreichte die rechte Gewalt mit neun Mordopfern, die Tobias Rathjen bei einem Anschlag in Hanau am 19. Februar aus rassistischen Motiven auswählte, eine neue Dimension.

    Unter den Straftatbeständen rechter Gewalt ist die einfache Körperverletzung mit 672 Fällen am stärksten vertreten. Aber auch gravierendere gefährliche Körperverletzungen (380) ereignen sich oft. Seltener sind die Straftatbestände der Nötigung und Bedrohung (197), massive Sachbeschädigung (40) und schwere Körperverletzung beziehungsweise versuchte Tötung (20).

    Höhere Entschädigungen für Opfer von Rechter Gewalt gefordert

    Oft müssen die Opfer rechter Gewalt nach den Taten um ihre Existenz bangen. Opferverbände kritisieren in diesem Zusammenhang immer wieder die mangelnde materielle Unterstützung durch den Staat. In einem offenen Brief wendeten sich kürzlich mehr als 50 prominente Vertreter von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen sowie Intellektuelle, Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, um höhere staatliche Entschädigungsleistungen für die Betroffenen zu erreichen.

    Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Klein, teilt die Kritik so nicht: "Es gibt mit Edgar Franke einen Opferbeauftragten der Bundesregierung, der sehr aktiv ist. Die Ministerin Lambrecht hat die Probleme meiner Einschätzung nach erkannt und geht sie an. Über die konkrete Höhe von Entschädigungsleistungen kann man aber natürlich immer streiten."

    Deutschland: Tut der Staat im Kampf gegen Rechte Gewalt zu wenig?

    Newroz Doman von der Hanauer Initiative 19. Februar nimmt den Staat auch bei der Strafverfolgung stärker in die Pflicht. Er sagt: "Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen allzu oft im Stich. Ihre Forderungen nach transparenter Aufklärung und konsequenter Strafverfolgung werden ebenso ignoriert wie die klaren Warnsignale, die es vor dem Anschlag in Hanau aufgrund des Ausmaßes der legalen Bewaffnung des Täters und dessen rassistischen Bedrohungen von Jugendlichen in Hanau-Kesselstadt gab."

    Bei der Strafverfolgung sieht der Antisemitismus-Beauftragte Klein die richtigen Ansätze: "Gerade nach dem schrecklichen Mord an Walter Lübcke und dem Anschlag von Halle hat die Politik Maßnahmen ergriffen." Klein lobt in diesem Zusammenhang ein von der Bundesregierung im Herbst 2019 verabschiedetes Paket. Er hält es für richtig, noch stärker gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. "Durch die geplante Erlaubnis zur Nachverfolgung von IP-Adressen wird Tätern verstärkt der Rückzug in die Anonymität des Internets abgeschnitten. Sie können besser ermittelt und zur Verantwortung gezogen werden. Das rechte Milieu wird dadurch zurückweichen", meint Klein. Generell bereiten aus seiner Sicht Hass und Hetze im Netz den Boden für rechte Gewalttaten.

    Ein guter Schritt ist es nach Meinung von Klein außerdem, dass Polizei und Staatsanwaltschaften mittlerweile vielerorts Antisemitismus-Beauftragte einsetzen. "Wünschenswert wäre, dass es zusätzlich auch mehr Rassismus-Beauftragte gibt, die sind ganz genauso dringend nötig", sagt Klein.

    Antisemitismus-Beauftragter plädiert für Zivilcourage gegen Rechte Gewalt

    Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung ermuntert jeden, im Alltag sein Möglichstes gegen rechte Gewalt zu unternehmen. "Sie bedroht nicht nur Ausländer oder Juden, sondern uns alle und unsere Demokratie. Ich plädiere für die Zivilcourage. Sei es auf dem Fußballplatz, im Restaurant oder sonst wo", sagt Felix Klein. "Die Leute, die solche Taten und Anfeindungen begehen, sehen unser Schweigen als Zustimmung. Es sollte für sie unangenehmer werden."

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