Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ehemalige Donauwörther Heimkinder über das sprechen konnten, was man ihnen in der Einrichtung Heilig Kreuz angetan hat. An diesem Ort, der 1977 geschlossen wurde, waren sie geschlagen worden. Wenn sie nachts eingenässt hatten, bekamen sie keine frische Bettwäsche. Ein Betroffener berichtet, wie die Buben und Mädchen zum Teil ihr Erbrochenes essen mussten. Und: Der inzwischen verstorbene Heimleiter und Priester soll sich regelmäßig an Kindern vergangen haben.
Publik wurden die Missbrauchsfälle erst im Februar dieses Jahres. Zwei Schwestern, die in den 60er Jahren zum Schutz vor ihrem prügelnden Vater in die Obhut der Einrichtung gekommen waren, brachen ihr Schweigen. Davon ermutigt, meldeten sich weitere Opfer. Peter Kosak gehört zu denjenigen, die die Geschehnisse aufarbeiten. Das sei der Wunsch der Betroffenen, sagt der Vorsitzende der Stiftung Cassianeum, die damals Heilig Kreuz betrieben hat. Nun sucht Kosak nach Antworten. Zum Beispiel darauf, ob hinter den Missbrauchsfällen ein systematisches Vorgehen steckt und wie viele Täter beteiligt waren.
Donauwörth, so die erschreckende Erkenntnis aus vielen Berichten aus den vergangenen Jahren, vielmehr Jahrzehnten, ist kein Einzelfall. Donauwörth ist überall. In den USA, in Australien, Irland, Südamerika. Allein Deutschland: Mindestens 3677 Opfer sexueller Gewalt zwischen 1946 und 2014, mindestens 1670 Priester als mutmaßliche Täter, hohe Dunkelziffer – die Studie der Deutschen Bischofskonferenz, aus der am Mittwoch erste Details an die Öffentlichkeit drangen, vermittelt eine Ahnung davon, welches Ausmaß dieser Skandal hat. Und welches grundsätzliche Problem die katholische Kirche. Es schlägt so hohe Wellen, dass der Umgang mit dieser Masse an Fällen zur Nagelprobe für den Papst wird. Manche sagen auch: Franziskus ist angezählt.
Kinderheim Heilig Kreuz: Wie ein Fall in Donauwörth aufgearbeitet wird
Im Fall des Kinderheims Heilig Kreuz ist es also Peter Kosak, der Licht ins Dunkel bringen will. Mit Hilfe einer Historikerin, die im Auftrag der Diözese Augsburg in Archiven nach Hinweisen sucht, um Taten zu rekonstruieren. Mit Hilfe eines früheren Richters, der Einzelgespräche mit Opfern führte, die sich bei der Diözese gemeldet hatten. Alle bislang elf Betroffenen haben schon einen finanziellen Ausgleich bekommen. „Das ist ein Zeichen an die Betroffenen, dass wir mitfühlen, dass es uns leidtut“, sagt Kosak.
Als Entschädigung oder Wiedergutmachung will er die Zahlungen nicht bezeichnen. Denn wieder gut machen, was den Opfern widerfahren ist, könne man mit Geld auf keinen Fall, sagt Kosak. Anfang kommenden Jahres soll ein Bericht veröffentlicht werden, der „mit größtmöglicher Transparenz“, wie er verspricht, die Erkenntnisse der laufenden Aufarbeitung darstellt.
Berichte dieser Art hat es viele gegeben in den vergangenen Jahren. Im Fall Ettal. In dem oberbayerischen Benediktinerkloster waren jahrzehntelang körperliche und seelische Misshandlungen sowie sexueller Missbrauch von Schülern an der Tagesordnung. Die Aufarbeitung gilt heute als vorbildlich für andere betroffene Einrichtungen. Oder Regensburg. Mehr als 400 ehemalige Sänger der Domspatzen wurden von Lehrern und Priestern über Jahrzehnte körperlich misshandelt; dutzende wurden sexuell missbraucht. Auch in der Region gab es Fälle, in Mindelheim beispielsweise, wo der langjährige Leiter des seit 2014 geschlossenen Internats am Maristenkolleg mindestens zwei Schüler missbrauchte. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Ja, es gab Aufarbeitung. Aber sie lief in vielen Fällen zäh und – so der Vorwurf von Betroffenen – nicht immer ehrlich. Das sehen jedenfalls die Forscher so, die die hierzulande bislang größte Studie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erstellt haben. Lange Zeit sei oft mehr auf das Ansehen der Kirche geachtet worden als auf die Belange der Opfer, beklagen die Wissenschaftler beispielsweise. Das sieht Matthias Katsch nicht anders. Papst und Bischöfe müssten immer noch lernen, „uns zuzuhören“, sagt der Mitbegründer der Opferinitiative am Donnerstag im ZDF.
Missbrauchsfälle: Noch immer besteht grundsätzlicher Redebedarf
Es ist ja Teil dieses gewaltigen Problems, dass trotz der vielen bekannten Fälle noch immer grundsätzlicher Redebedarf auf höchster Kirchenebene besteht. Deshalb hat Papst Franziskus die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen weltweit zu einem Treffen in den Vatikan eingeladen, um über Missbrauchsprävention zu beraten. Vom 21. bis 24. Februar 2019 werden sich die 113 Vorsitzenden mit dem Papst im Apostolischen Palast versammeln. Fünf Monate sind es noch bis dahin und niemand weiß, wie viele neue Skandale die katholische Kirche dann noch erschüttert haben werden. Es herrscht dieser Tage Alarmstimmung in Rom, die Ereignisse überschlagen sich.
Noch mal zur Erinnerung: Vergangenes Jahr machte die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Australien Schlagzeilen. Anfang des Jahres brachte sich Franziskus selbst in Bedrängnis, weil er Opfer von sexuellem Missbrauch durch Kleriker in Chile der Verleumdung bezichtigte und offenbar den falschen Prälaten Glauben schenkte. Im Juli wurden – mehr als 15 Jahre nach den ersten Enthüllungen in der US-Kirche – erneut unhaltbare Zustände in den dortigen Diözesen bekannt. Eine Grand Jury im Bundesstaat Pennsylvania berichtete von mehr als tausend Kindern und Jugendlichen, die über einen Zeitraum von 70 Jahren von mehr als 300 katholischen Priestern missbraucht wurden – deshalb das Treffen am Donnerstag von Franziskus mit den Spitzen der US-Bischofskonferenz. Schließlich die Studie der Deutschen Bischofskonferenz, die offiziell erst am 25. September auf der Herbstvollversammlung in Fulda vorgestellt wird, aber schon jetzt Journalisten durchgesteckt wurde. Was zeigt, welch hohe Brisanz in den Ergebnissen steckt.
Die Untersuchung fördert auch Widersprüche zutage: Die Institution, die eigentlich kontrolliert werden soll, beauftragt, finanziert und kontrolliert eine Studie über sich selbst. Eine der großen Fragen lautet deshalb: Muss die katholische Kirche von außen geläutert werden oder schafft sie das aus eigener Kraft? Die Antwort hängt nicht zuletzt von ihrem Oberhaupt ab. Franziskus aber ist selbst in der Defensive. Auf dem Rückweg vom Weltfamilientag in Irland Ende August wurde er mit einem Dossier konfrontiert, das der ehemalige vatikanische Nuntius in den USA, Carlo Maria Viganò, veröffentlicht hatte und der darin den Rücktritt des Papstes fordert. Nicht nur der halbe Vatikan, auch Franziskus soll seit Jahren von den Taten des ehemaligen Erzbischofs von Washington, Theodore McCarrick, gewusst haben, der offenbar mehrere Jugendliche und Seminaristen sexuell missbrauchte. Franziskus entzog McCarrick im Juli die Kardinalswürde. Vielleicht war das zu spät.
Im Zuge der Missbrauchsskandale brechen dem Papst immer mehr Verbündete weg. Wegen des Pennsylvania-Berichts, aber auch wegen der Causa McCarrick steht der Rücktritt des aktuellen Washingtoner Erzbischofs, Donald Wuerl, offenbar kurz bevor. Er ist einer der engsten Vertrauten des Papstes in den USA. Franziskus predigt immer wieder „null Toleranz“, trifft Opfer und macht Ankündigungen. Sollten Viganòs Vorwürfe zutreffen, wäre er unglaubwürdig.
Bislang sagte der Papst nur, das Dossier des Ex-Nuntius, „spreche für sich selbst“. Inzwischen ist klar, dass die Linie des Schweigens und Um-Vergebung-Bittens nicht mehr haltbar ist. Wie es heißt, wird im Vatikan ein Gegendossier gegen die detaillierten, aber auch von sichtbarer politischer Abneigung gegen den Papst genährten Vorwürfe Viganòs vorbereitet. Im Februar also beraten die Chefs der Bischofskonferenzen zum Thema Missbrauch. Von einem „Brainstorming“ und einer „Mini-Synode“ schreibt die italienische Presse.
Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche: Der Vatikan steckt in einem Dilemma
Der Vatikan steckt in einem Dilemma. Für Oktober ist seit langem eine ordentliche Synode, also ein großes Bischofstreffen, zum Thema „Jugend, Glaube und Berufung“ angesetzt. Angesichts des Missbrauchsskandals wirkt das Treffen schon jetzt wie eine Themaverfehlung. Wie kann sich die katholische Kirche glaubhaft mit ihrer Zukunft beschäftigen, wo sie gerade von ihrer Vergangenheit überrollt wird? Einige US-Bischöfe forderten, die Synode müsse sich der aktuellen Krise widmen. Der Wunsch wurde bislang aber nicht erhört. Offenbar wurde der Sondergipfel im Februar auch deshalb angesetzt, um diesen Zwiespalt zu lösen.
Den Vorschlag, ein Krisentreffen im Februar abzuhalten, hat der neunköpfige Kardinalsrat Franziskus diese Woche unterbreitet. Es ist das höchste Beratungsgremium des Papstes, zu dem auch Reinhard Kardinal Marx zählt, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Um Franziskus wird es einsamer. Das zeigt auch ein Blick auf die Zusammensetzung dieses K9-Rats, der bald personell erneuert werden soll. Drei der neun Mitglieder waren bei den jüngsten Beratungen nicht dabei, gegen mindestens zwei von ihnen werden schwere Vorwürfe erhoben. So steht der von Franziskus beurlaubte Chef des vatikanischen Wirtschaftssekretariats, George Kardinal Pell, in Australien wegen Missbrauchsvorwürfen vor Gericht. Auch der Chilene Francisco Javier Errázuriz soll Missbrauchstäter gedeckt und den Papst falsch informiert haben.
Drei Vormittage lang kamen die Kardinäle diese Woche im Vatikan zusammen, zweimal versicherten die Prälaten Franziskus anschließend ausdrücklich ihre Solidarität. Manche werten diese Bekenntnisse als Hinweis auf die angeschlagene Autorität des Papstes.
Als dieser vor ein paar Wochen aus Irland abreiste, dauerte es nicht lange, bis eine ganze Reihe dortiger Missbrauchsopfer ausplauderten, wie enttäuscht sie vom Papst-Besuch gewesen seien. Die heute 71-jährige Marie Collins hatte Franziskus nicht nur von ihrer Kindheit im Erzbistum Dublin erzählt, wo sie in den 60er Jahren wiederholt von einem Geistlichen sexuell missbraucht worden war. Sondern auch von ihrer Frustration über die mangelnde Kooperation der vatikanischen Behörden zur Aufarbeitung der Straftaten. Die Irin fordert konkrete Schritte, neue Standards, einen glaubhaften Wandel. Sie sagt: „Jeder faule Apfel sollte entfernt werden.“ Die bisherigen Fälle zeigen: Wenn das überhaupt passiert, kann es in der katholischen Kirche Jahrzehnte dauern.