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Terror: Sein Sohn verlor die Mutter, er eine gute Freundin

Terror

Sein Sohn verlor die Mutter, er eine gute Freundin

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    Petr Cizmar redet über den Tod seiner Frau und das Versagen der Politik.
    Petr Cizmar redet über den Tod seiner Frau und das Versagen der Politik. Foto: Sebastian Kahnert, dpa

    Die Sticknadel steckt noch in der filigranen Handarbeit, die Petr Cizmar im Auto seiner Frau gefunden hat. Ein Tulpenmuster ist zu sehen, senfgelber Seidenfaden, an einem Blatt bricht es ab. Für

    Wenn Petr Cizmar daran denkt, was seine Frau, die nach der Trennung vor gut zwei Jahren eine gute Freundin blieb, alles nicht mehr vollenden kann? Er denkt zuerst an David, seinen Sohn, an dessen Erziehung. „Vielleicht war das ihre wichtigste Aufgabe“, sagt er. David ist jetzt sechs Jahre alt. Er wird sein zweites Weihnachten ohne Mama feiern.

    Im August ist Petr Cizmar, 39, promovierter Physiker, von Braunschweig nach Dresden gezogen. Neue Stadt, neues Leben. Ein Grund war die Arbeit. Er hat nun einen festen Job in der Halbleiterindustrie. David ist in

    Fast ein Jahr lang hat Nada Cizmarovas Foto am improvisierten Erinnerungsort an der Gedächtniskirche gehangen. Es zeigt eine Frau mit kastanienbraunem Haar. Zwölf Tote haben hier einen Namen bekommen, acht von ihnen auch ein Gesicht. „Ich habe zugestimmt, dass Nadas Name öffentlich wird“, sagt Petr Cizmar. „Da ist keine unbekannte Tschechin umgekommen, sondern ein echter Mensch.“ Dann sagt er noch etwas. „Das war ein völliges Versagen des Staates, dass er diesen Anschlag nicht verhindert hat.“ Im Laufe des Jahres ist für ihn noch etwas dazugekommen. Er nennt es die Ignoranz der Politik.

    Am 19. Dezember wird es in der Gedächtniskirche ein Gedenken geben. Zum Jahrestag des Anschlags soll vor der Tür ein Ort der Erinnerung das Provisorium ablösen. Ein Riss aus Metall wird sich die Stufen zur Kirche hochziehen. Damit geht ein Jahr zu Ende, in dem Untersuchungsausschüsse den Polizeibehörden Fehler nachwiesen. Nicht allein bei der Einschätzung des Attentäters Anis Amri. Es geht auch um die Frage des Vertuschens. Es ist ein Jahr, an dessen Ende die Familien der Toten einen offenen Brief schreiben. Es ist das Ende eines Jahres, in dem Verletzte in Reha-Einrichtungen weiter um ihre Rückkehr ins Leben kämpfen, ohne Arme oder Beine.

    In Berlin vertritt Rechtsanwalt Steffen Tzschoppe die Studentin Valeriya Bagratuni, die ihre Eltern verlor. Anna und Georgiy Bagratuni schickten der Tochter noch ein heiteres Foto vom Glühweintrinken aufs Handy. Minuten später waren sie tot. Ein Paar aus der Ukraine, Mitte 40, das sich in

    Tzschoppe ist Strafverteidiger. Macht es einen Unterschied, ob er Täter vertritt oder Opfer? Tzschoppe überlegt. „Nein, eigentlich nicht“, sagt er. „Der Täter soll ein faires Verfahren kriegen. Und Opfern soll, so gut es geht, Gerechtigkeit widerfahren. Vor allem sollen sie alle Informationen bekommen.“

    Die Informationen über den Anschlag stehen in den Akten der Ermittler. Um Einsicht zu erhalten, brauchen Betroffene einen Anwalt. „Ich mach’ das seit 20 Jahren, ich hab’ ein dickes Fell“, sagt Tzschoppe. Doch die Fotos aus der Akte Bagratuni seien ihm nahegegangen. Die gesplitterte Scheibe des Lkw. Der tote Fahrer. Erschossen. Bilder aus dem Computertomografen, die zerschmetterte Körper zeigen.

    Valeriya Bagratuni studiert Zahnmedizin. Sie kann diese Bilder lesen. Tzschoppe hat ihr die Akte nicht gegeben, obwohl sie danach gefragt hat. „Das ist zu gruselig. Sie soll ihre Eltern lebendig in Erinnerung behalten.“ Seine Mandantin studiert weiter. Wie geht es ihr? Tzschoppe weiß das für den Moment nicht. Das Studium finanziert jetzt ein Ehepaar, private Spender. Steffen Tzschoppe hat kein Geld für seine Arbeit genommen, eine Ausnahme. Er findet, dass sich ihm gegenüber alle tadellos verhalten haben – Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt, die Senatsverwaltung, Versicherungen, Banken. Natürlich ärgere das, was jetzt an Pannen herausgekommen sei. Aber Menschen machten Fehler, auch die Polizei.

    Nada Cizmarova war Logistikerin. Für eine tschechische Firma in Berlin berechnete sie Lkw-Ladungen. Im Oktober 2016 hatte sie eine Wohnung gefunden. Nun sollte es einfacher werden, auch mit David. Bis sich die Mutter in Berlin eingerichtet hat, sollte sich der Vater in Braunschweig um ihn kümmern, Das war der Plan. Am Abend des 19. Dezember wollten Nada Cizmarovas Kollegen auf den Weihnachtsmarkt. Sie hatte wenig Lust, wollte lieber Plätzchen backen, aber auch keine Spaßbremse sein. Sie telefonierte mit Petr und fragte, ob es David gut gehe.

    Petr Cizmar war am Tag nach dem Anschlag auf der Suche nach seiner Frau. Niemand konnte ihm etwas sagen, ihr Handy war nicht erreichbar. Er ist ein Mann, der in Wahrscheinlichkeiten denkt, Sätze abwägt und sachlich bleibt. Als zwei Polizisten am 23. Dezember in Braunschweig an der Tür klingeln, nach vier Tagen Ungewissheit, weiß er, was kommt. Er sagt seinem Sohn, dass Mama Weihnachten nicht nach Hause kommen kann. Und dass Totsein bedeutet, dass sie nie mehr kommen kann.

    Petr Cizmar erinnert sich an den tschechischen Botschafter, der noch am selben Abend von Berlin nach Braunschweig fuhr. Er denkt an den Anruf des tschechischen Außenministers. „Das hat mir gezeigt, dass der Staat das ernst nimmt“, sagt er. Es hat ihm geholfen. Von den deutschen Behörden habe er damals nichts gehört. „Anfang Januar hatte ich das Gefühl, dass die deutsche Politik das vergessen will.“

    Später seien Briefe vom Bundesjustizminister gekommen, vom Außenminister und eine Einladung des Bundespräsidenten. Doch in all den Monaten seit dem Anschlag hat Petr Cizmar eines vermisst: eine Reaktion von Angela Merkel. Ein Statement der Kanzlerin. Kein Kondolenzschreiben, sagt Petr Cizmar.

    Wenn es am Montag zum Treffen zwischen Bundeskanzlerin und Hinterbliebenen kommt, dann möchte er ihr das alles persönlich sagen. Er würde fragen, warum nach all den Fehlern und Versäumnissen niemand zurückgetreten ist.

    Petr Cizmar hat seine Frau in Veseli nad Luznici (Wesseli) in Südböhmen begraben. Er hat sich gefreut, dass ihm Fremde Karten schickten, manche sogar Spenden. Später hat er ratlos über Formularen deutscher Behörden gesessen. Dort habe gestanden: „Beschreiben Sie Ihr Verhältnis zum Täter.“ Ulrike von Leszczynski, dpa

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