Die Menschen in Deutschland müssen sich nach Ansicht der Bundesregierung auf eine verstärkte Ausbreitung besonders ansteckender Varianten des Coronavirus einstellen.
"Wir haben im Hintergrund die dunkle Wolke einer sehr ernsthaften Gefahr", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Lockerungen der Lockdown-Beschränkungen rücken somit in die Ferne. Die Massenimpfungen werden immer mehr zum Wettlauf gegen die Zeit.
Die Bundesregierung zeigt sich vor allem alarmiert von den Infektionen mit der in Großbritannien verbreiteten Corona-Mutation B.1.1.7. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sagte in der ARD-Sendung "Anne Will", dass die Mutante auch in Deutschland "die Führung übernehmen" werde. Seibert sagte: "Jetzt sind wir in einer sehr schwierigen Situation."
Es gebe zwar im Moment ein erfreuliches Sinken der Infektionszahlen und der Zahl der Covid-19-Intensivpatienten, so Seibert. So meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut (RKI) 6729 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages. "Das sind erste Erfolge für uns alle in dieser zweiten Welle", sagte Seibert. "Gleichzeitig haben wir die große und sehr reale Gefahr, dass sich die Virusmutante auch bei uns wie in anderen Ländern immer weiter durchsetzt und dass die Zahlen wieder stark in die Höhe getrieben werden könnten." Deshalb gelte: "Wir müssen möglichst schnell zu deutlich niedrigeren Infektionszahlen kommen." Den guten Weg jetzt zu unterbrechen - "das wäre gerade falsch".
Die zunächst in Großbritannien (B.1.1.7) und Südafrika (B.1.351) nachgewiesenen Varianten gelten als hochansteckend. Laut RKI wurde B.1.1.7 nun insgesamt 51 und B.1.351 19 mal gemeldet. Allein an Berliner Vivantes-Kliniken wurde nach Angaben vom Montag bei 24 Personen die aus Großbritannien bekannte Variante nachgewiesen. Weitere Befunde standen in Berlin am Nachmittag noch aus. Die Südafrika-Variante war vergangene Woche bei neun Patienten in Leipzig nachgewiesen worden. In Stuttgart war die zunächst in Südafrika entdeckte Variante bei einem von dort zurückgekehrten Ehepaar aufgespürt worden. Eine in Brasilien zirkulierende Variante - wohl ebenfalls sehr ansteckend - war in Hessen nachgewiesen worden.
In der Region Hannover wurde eine Frau innerhalb weniger Wochen zweimal positiv auf Corona getestet - auch dort wird spekuliert, ob sie sich mit einem mutierten Virus angesteckt hat. Denn befürchtet wird, dass sich Covid-19-Genesene an solchen ein zweites Mal infizieren. Auch die volle Wirksamkeit von Impfstoffen steht bei ihnen infrage. Unklar ist, wie stark die gefährlichen Mutationen wirklich schon verbreitet sind. Denn die Suche nach ihnen wurde erst kürzlich ausgeweitet.
Der Virologe Christian Drosten sieht Deutschland aber erst in einer Anfangsphase, in der sich die Ausbreitung noch kontrollieren lasse. Allerdings rechnet er mit im schlimmsten Fall 100.000 Neuinfektionen pro Tag bei einem zu frühen Lockdown-Ende, wie er im "Spiegel" deutlich gemacht hatte. Der Bioinformatiker und Regierungsberater Rolf Apweiler sagte RTL/ntv, im Fall einer deutlichen Lockerung wäre dies keine Schwarzmalerei. Die drei Mutationen seien auf einen Monat betrachtet sechs- bis achtfach so ansteckend, erläuterte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach bei "Bild". Bei den binnen eines Tags registrierten Neuinfektionen war bislang mit 33.777 am 18. Dezember der höchste Wert gemeldet worden.
Die Regierung und die CDU erteilten Rufen nach Lockdown-Lockerungen eine Absage. Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet sagte: "Wenn Infektionszahlen nachhaltig und deutlich sinken, muss man Grundrechtseingriffe auch wieder zurücknehmen, muss man Schulen und Kitas wieder öffnen. Nur wir sind in dieser Phase jetzt nicht." Seibert sagte, wenn die Infektionszahlen eine Lockerung ermöglichten, würden Schulen und Kitas als erstes wieder geöffnet. Um dies zu erreichen, müssten alle die von Bund und Ländern beschlossenen Einschränkungen weiter umsetzen. Wichtig sei, "dass wir als Gesellschaft (...) diese nächsten Monate, die sicherlich zu den schwierigen gehören, möglichst gemeinsam überstehen".
Trotzdem hält die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst (SPD), Schulöffnungen Anfang Februar für möglich. "Sicher nicht vollständig", schränkte die brandenburgische Bildungsministerin in der "Rheinischen Post" ein. "Aber ich halte das bei entsprechender Infektionslage beispielsweise mit Wechselunterricht für möglich."
In anderen EU-Ländern schlagen die Mutationen schon stärker zu. Portugal wurde von Deutschland ab Mittwoch als Corona-Risikogebiet mit besonders gefährlichen Mutationen eingestuft. Bisher gehören schon Großbritannien, Irland, Brasilien und Südafrika in diese Kategorie. Reisende aus Portugal müssen wie bisher einen negativen Corona-Test vorweisen, wenn sie einreisen wollen, und dann in Quarantäne.
Brüssel reagiert mit neuen Vorschlägen auf die Knappheit bei Corona-Impfstoffen. Alle Exporte solcher Mittel aus der Europäischen Union sollen künftig erfasst und genehmigt werden. Ein neues Transparenzregister soll laut EU-Kommission binnen Tagen eingeführt werden und erfassen, welche Hersteller welche Mengen von in der EU produzierten Impfstoffen an Drittstaaten liefern. Zudem benötigten Hersteller künftig eine Lizenz zum Export.
Nach dem Hersteller Pfizer hatte am Freitag auch der Pharmakonzern Astrazeneca verringerte Lieferungen an die EU angekündigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen telefonierte mit Astrazeneca-Chef Pascal Soriot und stellte nach Angaben eines Sprechers klar, dass die EU auf den vertraglich zugesicherten Lieferungen besteht. Der CDU-Europapolitiker Peter Liese kritisierte, Astrazeneca liefere in andere Teile der Welt, auch nach Großbritannien, ohne Verzögerung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) forderte in Berlin, die EU müsse wissen, ob Impfstoffe ausgeführt werden. "Nur so können wir nachvollziehen, ob unsere EU-Verträge mit den Herstellern fair bedient werden."
Neuigkeiten für die Menschen in Deutschland soll es bei den Corona-Schnelltests geben - sie sollen laut einer geplanten Verordnung von Spahns Ministerium absehbar auch in Apotheken an Privatleute verkauft werden dürfen. Die bisherigen Antigen-Schnelltests dürfen nur an Ärzte, medizinische oder Pflegeeinrichtungen und Bildungseinrichtungen abgegeben werden.
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