Schichtarbeit kennen die meisten SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem eigenen Berufsleben nicht, echte Malocher gibt es unter ihnen kaum noch. Nun aber müssen sie sich an Schichtdienst gewöhnen. Denn Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles führt im Kampf gegen leere Stuhlreihen verpflichtende Dienstpläne ein. In einem Beschluss der SPD-Fraktion, der unserer Zeitung vorliegt, werden umfangreiche „Maßnahmen zur Sicherung einer höheren Präsenz in Plenarsitzungen“ beschrieben.
So werden die 153 SPD-Abgeordneten in drei ungefähr gleich große Gruppen eingeteilt. Im Wechselbetrieb hat dann jeweils eine Gruppe im Parlament zu sitzen, die zweite steht auf Abruf bereit und muss binnen einer Viertelstunde im Plenum sein, etwa wenn es zu namentlichen Abstimmungen kommt. Die dritte Gruppe muss nur bei besonderen Anlässen Präsenz zeigen. Wer nicht kann, muss sich schriftlich entschuldigen und hat selbst für Ersatz zu sorgen. Und die Präsenz werde künftig beobachtet, wenn erforderlich, drohten „weitergehende Maßnahmen“, heißt es.
Grüne reagieren mit Unverständnis auf SPD-Schichtdienst
Dass Nahles derart heftig die Zügel anzieht, hat einen brisanten Hintergrund. Leere Ränge, gerade bei Fachdebatten, sind im Bundestag nicht neu – doch die AfD nimmt sie seit ihrem Einzug in den Bundestag regelmäßig zum Anlass, um mit entsprechenden Bildern in sozialen Netzwerken Stimmung gegen die „Altparteien“ zu machen. Gerade für die SPD wird dies zum Problem. Ihre Talfahrt ist nach dem albtraumhaften 20-Prozent-Ergebnis bei der Bundestagswahl noch nicht zu Ende. In Umfragen zur Wählergunst ist die SPD inzwischen auf 17 Prozent gefallen, die AfD ist auf exakt diesen Wert geklettert.
Dass sie außerhalb der Kernzeiten nicht ständig im Parlament anwesend sind, begründen Abgeordnete seit Jahr und Tag mit ihren vielen sonstigen Terminen: Fachausschusssitzungen, Expertengespräche, Auftritte bei Veranstaltungen, Kongressen und in Gremien.
Britta Haßelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, sagt: „Wir sind ja ein Arbeitsparlament. Das heißt, die parlamentarische Arbeit findet nicht nur im Plenum statt.“ Ihre Fraktion entscheide je nach Tagesordnung, „ob die Gesamtfraktion im Plenum präsent sein soll oder die zuständigen Fachabgeordneten die Debatte im Plenum führen, während andere Kolleginnen und Kollegen ihrer Arbeit in den Ausschüssen nachkommen oder andere Termine wahrnehmen können.“
Vom Schritt der SPD zeigt sie sich verwundert: „Ich frage mich schon, warum sich die SPD jetzt Gedanken über ihre Präsenz im Plenum macht. Uns ist es nicht erst in dieser Legislaturperiode wichtig, dass sich Ausschuss- und Plenumsarbeit unserer Fraktion gut ergänzen.“ Marco Buschmann, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, stellt gegenüber unserer Zeitung nicht nur bei der SPD Defizite in Sachen Anwesenheit fest: „In den letzten Wochen wurde die schwache Präsenz der Koalitionsfraktionen insbesondere bei Anträgen von FDP und Grünen besonders deutlich. Es gelang sogar, den Minister Seehofer ins Parlament zu zitieren.“
Opposition führt Seehofer dank schwacher Koalitionspräsenz vor
Buschmann bezieht sich auf eine Aussprache Ende Juni zum Thema Seenotrettung von Flüchtlingen. Nach einem Geschäftsordnungsantrag der Grünen musste Bundesinnenminister Horst Seehofer erscheinen. Dass Minister herbeizitiert werden, ist selten – normalerweise verhindert dies die Regierungsmehrheit. Buschmann: „Vermutlich haben noch nicht alle Abgeordneten der Koalition gemerkt, dass sie keine 80 Prozent-Mehrheit mehr haben, wie in der letzten Legislaturperiode“, sagt Buschmann. Letztlich müsse die SPD aber „selbst entscheiden, wie sie ihre Präsenz im Plenum angemessen sicherstellt“.
Bei der Unionsfraktion gibt es keine offizielle Auskunft zu den Schichtdiensten bei der SPD. Michael Grosse-Brömer, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, will sich auf Anfrage unserer Zeitung nicht äußern. Bei CDU und CSU heißt es aber, dass solche Regelungen nicht für nötig erachtet würden und deshalb auch nicht geplant seien. Denn noch nie sei eine Abstimmung verloren worden, weil zu wenig eigene Leute anwesend waren.