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SPD: Was Sigmar Gabriel zu seinem Rückzug bewogen hat

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Was Sigmar Gabriel zu seinem Rückzug bewogen hat

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    Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und schlägt den bisherigen  EU-Parlamentspräsidenten Schulz als Herausforderer von Kanzlerin Merkel vor.
    Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und schlägt den bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Schulz als Herausforderer von Kanzlerin Merkel vor. Foto: Gregor Fischer, dpa

    Er will also nicht mehr. Nicht mehr SPD-Chef sein und erst recht nicht Kanzlerkandidat werden. Denn er weiß, dass er nicht den Hauch einer Chance hat. Nicht in der eigenen Partei, nicht gegen Angela Merkel. Sigmar Gabriel hat es schwarz auf weiß vor sich liegen. Eine Umfrage unter SPD-Wählern und -Sympathisanten, die er selbst in Auftrag gegeben hat, zeichnet ein ebenso ehrliches wie für Gabriel wenig schmeichelhaftes Bild. Die eigenen Genossen mögen ihn nicht und halten ihn wegen seiner anhaltend schwachen Popularitätswerte für chancenlos im Kampf um das Kanzleramt. Eine große Mehrheit ist dagegen der Meinung, mit Martin Schulz, dem früheren, ebenso leidenschaftlichen wie streitbaren Präsidenten des Europäischen Parlaments, die deutlich besseren Chancen bei der Wahl zu haben (→ Kommentar: "Martin Schulz ist der bessere Kanzlerkandidat").

    Völlig überraschend für die eigene Partei wie für die Öffentlichkeit zieht Gabriel daraus nun die Konsequenzen. Erst vor der Bundestagsfraktion, dann bei einem Treffen der engsten Parteiführung und schließlich bei einer kurzfristig angesetzten Sitzung des Präsidiums erklärt er seinen Rücktritt als SPD-Chef und seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur. „Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD“, sagt er. Statt seiner solle Martin Schulz Parteichef und Kanzlerkandidat werden. Und er hat noch eine weitere Überraschung parat: Er will auch vom Amt des Wirtschafts- und Energieministers zurücktreten, um als Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier ins Auswärtige Amt zu wechseln, wenn dieser am 12. Februar zum Bundespräsidenten gewählt wird.

    Gabriel: Als Vizekanzler und Wirtschaftsminister Akzente gesetzt

    Die Ankündigungen erwischen die Genossen kalt. Mit allem haben sie gerechnet, nur nicht damit. In der Fraktion herrscht atemlose Stille, als Gabriel seine Erklärung abgibt. Abgeordnete sprechen hinterher aber auch von einer „Erlösung“. „Die Botschaft kam für viele überraschend, aber es war auch eine Befreiung. Endlich ist die Zeit der Ungewissheit vorbei“, sagt der Abgeordnete Karl-Heinz Brunner aus Illertissen unserer Redaktion.

    Dabei schien die Sache eigentlich klar: Dieses Mal würde Gabriel, anders als vor vier Jahren, nicht mehr kneifen und großzügig einem anderen den Vortritt lassen können. Am Sonntag sollte das Präsidium die Personalentscheidung treffen. Alles lief auf eine Kür des Niedersachsen hinaus. Sieben Jahre stand er an der Spitze der SPD. So lange hat sich seit dem Rücktritt von Übervater Willy Brandt 1987 kein Vorsitzender im Amt gehalten. Er hat die Sozialdemokraten nach den beiden schweren Wahlniederlagen 2009 und 2013 wieder stabilisiert und sie nach der letzten Bundestagswahl wieder in die Regierung geführt.

    Und er hat als Vizekanzler und Wirtschaftsminister deutliche Akzente gesetzt, zuletzt bei der Rettung von rund 15.000 Jobs bei der Supermarktkette Kaisers/Tengelmann. Als Parteichef hatte er qua Amt das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur.

    Was Gabriel und Schulz am Dienstagabend sagten

    Martin Schulz und Sigmar Gabriel äußerten sich zur SPD-Kanzlerkandidatur:

    "Das ist unser einstimmiger Präsidiumsbeschluss als Vorschlag für den Parteivorstand", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel.

    Er dankte der SPD für die Zeit als Parteichef und ergänzte: "Zur Wahrheit gehört: Ich habe es der SPD nicht immer leicht gemacht, umgekehrt auch nicht immer."

    Außerdem werde die kommende Bundestagswahl keine wie jede andere.

    Er fuhr fort: Es sei für ihn keine einfache Entscheidung gewesen. "Aber ich bin sicher, es ist die richtige."

    Schulz sprach von einem "besonderen Tag, der mich tief bewegt". Die Nominierung als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender sei "eine außergewöhnliche Ehre, die ich mit Stolz aber auch mit der gebotenen Demut annehme".

    Schulz über Gabriel: "Er ist ein großer Vorsitzender der SPD", bei allem was der Parteichef für die SPD und das Land getan habe.

    Schulz betonte, man wolle, dass Menschen eine sichere Zukunft für ihre Kinder haben und alle die gleichen, fairen Chancen, sich in der Gesellschaft zu verwirklichen.

    Gabriel nannte Schulz einen "großen Sozialdemokraten" sowie einen deutschen Europäer als auch europäischen Deutschen: "Er ist jemand, der Brücken bauen kann, der Menschen zusammenführt."

    Schon aufgrund seiner eigenen Biografie und langen politischen Erfahrung kenne Schulz alle Politkfelder. Schulz wisse, was für Deutschland, aber auch für Europa wichtig sei.

    Gabriel sagte, er habe sich für Schulz entschieden, weil er die besseren Chancen habe, die Wahl zu gewinnen.

    Gabriel sagte auf die Frage, warum sich der Zeitplan zur Nominierung des Kanzlerkandidaten geändert habe, die SPD werde am Sonntag entscheiden. "Ich habe nie die Absicht gehabt, die Funktionäre der SPD am Sonntag zu überraschen", sagte er...

    ... "Ich glaube, dass wir den Zeitplan ziemlich präzise eingehalten haben." Gemessen an dem, was der SPD in der Kandidatendebatte vorhergesagt worden sei, habe man "eine ziemliche Punktlandung gemacht".

    Und doch gab es bis zuletzt Zweifel. In der SPD mangelte es nicht an Stimmen, die offen ihre Bedenken an seiner Kandidatur äußerten und mit Blick auf seine anhaltend schwachen Popularitätswerte einen in der Partei wie bei den Wählern beliebteren Kandidaten wollten. So wurden immer wieder andere Namen ins Spiel gebracht. Allen voran Martin Schulz, aber auch Olaf Scholz, der seit 2011 erfolgreich und gleichzeitig hanseatisch unaufgeregt in der Elbmetropole Hamburg regiert.

    Spitzname "Siggi Pop" für Gabriel

    Gabriel gibt dem Ende mit Schrecken den Vorzug gegenüber einem Schrecken ohne Ende. Die Qual einer bis September anhaltenden Debatte, ob er der Richtige ist, will er weder sich noch der Partei zumuten.

    An Höhen und Tiefen, Erfolgen und Niederlagen herrscht im Leben des 57-Jährigen, der mit seiner zweiten Frau Anke und der gemeinsamen vierjährigen Tochter Marie in seiner Heimatstadt Goslar am Rande des Harzes lebt, ohnehin kein Mangel. Er stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Seine Eltern trennten sich, als er drei Jahre alt war. Gegen seinen Willen musste er zunächst bei seinem Vater leben, der bis zu seinem Tod 2012 ein überzeugter Nationalsozialist war.

    Erst mit zehn Jahren kam er nach einer zermürbenden juristischen Auseinandersetzung zur geliebten Mutter, die als Krankenschwester mehr schlecht als recht über die Runden kam. Das hat ihn geprägt. Bis heute erinnere er sich an seine Mutter, „die weinend in der kleinen Küche saß, die Hände vor dem Gesicht, weil sie nicht mehr weiter wusste“, erzählte er jüngst. Soll heißen, der Kampf der kleinen Leute ums tägliche Überleben ist ihm nicht fremd, sein soziales Engagement speist sich aus eigenem Erleben.

    Als 18-Jähriger trat er der SPD bei, nach Studium in Göttingen, Referendariat und Staatsexamen arbeitete er als Dozent in der Erwachsenenbildung. 1990 zog er in den niedersächsischen Landtag ein, zweimal war er SPD-Fraktionschef. 1999 wurde er zum Ministerpräsi-denten von Niedersachsen gewählt, verlor aber 2003 die Wahlen gegen CDU-Herausforderer Christian Wulff. Das kurzzeitige Ehrenamt eines Pop-Beauftragten der SPD brachte ihm den Spitznamen „Siggi Pop“ sowie viel Hohn und Spott ein. 2005 zog er in den Bundestag ein und wurde in der ersten Großen Koalition bis 2009 Umweltminister unter Angela Merkel. Nach vier Jahren in der Opposition folgte 2013 die Berufung zum Vizekanzler und Wirtschaftsminister mit der Zuständigkeit für die Energiepolitik.

    In Frau Anke findet Gabriel ein neues Glück

    Gabriel gilt als Vollblutpolitiker, der ständig unter Strom steht. Er ist ein begnadeter Redner und ein fleißiger Arbeiter, der mit Verve für seine Überzeugungen kämpft. Aber es gibt immer auch den anderen Sigmar Gabriel, den spontanen, sprunghaften, unbeherrschten Gefühlsmenschen, der keinem Konflikt aus dem Weg geht, mit rüden Tönen unbequeme Fragesteller oder Kritiker niederbürstet und den Eindruck erweckt, sich nicht im Griff zu haben. Unvergessen ist, wie er sich einst im „Heute Journal“ mit ZDF-Journalistin Marietta Slomka vor laufender Kamera fetzte. Oder wie er auf dem letzten Parteitag im Dezember 2015 in Berlin Juso-Chefin Johanna Uekermann abwatschte, nachdem sie ihm zuvor in ihrer Rede die Note „Vier minus“ verpasst hatte. Umgekehrt konnte Gabriel auch wieder der freundlichste und liebenswerteste Mann sein, der vor Charme nur so sprühte.

    In seiner zweiten Frau Anke, einer Zahnärztin aus Magdeburg, fand Gabriel ein neues Glück und vielleicht auch jene familiäre Geborgenheit, die er selbst als Kind nie erlebt und nach der er sich immer gesehnt hat. Völlig unromantisch lernten sie sich 2008 in der Notaufnahme kennen, als Gabriel wegen starker Schmerzen behandelt werden musste. Seit fast vier Jahren sind sie verheiratet. In Goslar baute sie sich eine eigene Praxis auf. Seine Tochter Marie liebt er über alles. Auf dem Parteitag rührte er die Delegierten, als er erzählte, wie schwer ihm und ihr jedesmal der Abschied falle, wenn er zur Arbeit nach Berlin müsse. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass die Familie ihr zweites Kind erwartet.

    Auch dies dürfte die Entscheidung, auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur zu verzichten, beeinflusst, gar befördert haben. Die Politik verlässt er ja nicht. Auch als Außenminister, so verspricht er den Abgeordneten, werde er sich „nicht zurückhalten“ und „engagiert“ Wahlkampf führen. Aber die Verantwortung ist er los.

    Endlich. Er will nicht mehr.

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