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SPD-Parteitag: Eindrücke vom Parteitag: Was von der großen SPD-Revolution übrig bleibt

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Eindrücke vom Parteitag: Was von der großen SPD-Revolution übrig bleibt

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    Machen die beiden da etwa ein Selfie oder schauen sie sich noch mal ihre Wahlergebnisse an? Das neue Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken
    Machen die beiden da etwa ein Selfie oder schauen sie sich noch mal ihre Wahlergebnisse an? Das neue Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Es gibt diese Erinnerungen, die zu jeder politischen Gruppe gehören wie die Weihnachtsgeschichte zu Heiligabend. Tradierte Erzählungen, die in wenigen Sätzen den Seelenzustand einer Partei zusammenfassen. In der SPD gibt es besonders viele dieser Legenden – nicht umsonst ist sie die älteste Partei, die Deutschland aufzubieten hat. Eine dieser Geschichten trifft den Geist dieser politisch unruhigen Zeit ganz besonders gut. Sie wird Herbert Wehner zugeschrieben. Das SPD-Urgestein soll seinen Genossen regelmäßig Zettelchen zugesteckt haben, auf denen vier dürre Worte standen: „Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.“

    Nicht wenige Genossen, die an diesem trüben Freitag in die Berliner Messehalle kommen, könnten so einen Zettel gut gebrauchen. Schon wieder treffen sich die Sozialdemokraten, schon wieder ist es ein Schicksalsparteitag. Seit Jahren strauchelt die SPD, im Vorstand macht man noch nicht einmal mehr den Versuch, die Dinge schönzureden. Die Sozialdemokraten, sie sind erschöpft vom Pragmatismus der vergangenen Jahre und der ewigen Suche nach der eigenen Identität.

    Die SPD will auf dem Parteitag eine neue Zeit einläuten

    In der Messehalle ist die Anspannung fast schon mit den Händen greifbar. „In die neue Zeit“ steht an der Wand, vor der die Tagungsleitung sitzt. Es ist nicht nur ein schnöder Auftrag, es ist beinahe ein Flehen. Hilde Mattheis, Parteilinke aus Ulm, betritt kurz vor 10 Uhr den Raum. In der Hand einen Kaffee, die blonden Haare streng zurückfrisiert, der Blick entschlossen. Was sie sich heute erhofft? „Raus aus der GroKo“, sagt sie. „Wir können so nicht weitermachen.“

    Was auch sonst? Wurde dafür nicht genau das neue Spitzenduo von der Basis gewählt?

    Und doch kommt es an diesem Tag anders: Die Revolution ist abgesagt. Die SPD mag noch so sehr mit der Großen Koalition hadern – verlassen wird sie diese zumindest vorerst nicht. Die Radikalität, mit der die neuen Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in den vielen regionalen Konferenzen viele Mitglieder überzeugt hatten, ist eine Woche nach Bekanntgabe des Ergebnisses und mit der Bestätigung durch den Parteitag einem nüchternen Pragmatismus gewichen. Auch wenn das Establishment abgewählt wurde – am Ende konnten sich die Funktionsträger mit ihren Posten und Ämtern irgendwie doch durchsetzen. Der Koalitionsvertrag soll mit der Union diskutiert werden, doch mehr eben auch nicht. Mühevoll kaschiert wird dies nur durch emotionale Bekenntnisse, die Seele der Partei künftig besser zu pflegen.

    Was sich die SPD-Mitglieder vor allem wünschen

    Dass Saskia Esken und vor allem Norbert Walter-Borjans beim Parteitag trotzdem mit einem respektablen Wahl-Ergebnis belohnt werden, liegt vor allem am großen Wunsch der Mitglieder nach Ruhe. Ein bisschen berauscht man sich noch in der Feststellung, mit der Doppelspitze einen zumindest für die Partei historischen Schritt zu gehen. Der Rest ist Erleichterung. Fast 90 Prozent der Delegierten stimmen für Walter-Borjans, seine Co-Vorsitzende kommt immerhin auf 75 Prozent.

    Zur Erinnerung: Andrea Nahles hatte im April 2018 bei der Wahl zur SPD-Chefin nur 66,4 Prozent der Stimmen erhalten. Doch wie lange die Ruhe in einer Partei wie der SPD halten kann, bleibt auch nach diesem Parteitag unklar. Denn eines ist sicher: Beide Vorsitzenden sind vor allem die Summe der Erwartungen, die in sie gesetzt werden und weniger das Ergebnis dessen, was sie bislang abgeliefert haben.

    Die Reden, die Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vor den rund 600 Delegierten halten, sind – wohlwollend betrachtet – bestenfalls solide. Die Aura der Macht umgibt sie noch längst nicht, vielleicht noch der Charme des „David gegen Goliath“-Sieges. Doch auf das Zeichen kommt es an. Und das zeigt nach Links. Die „neue Zeit“, die in der SPD anbrechen soll, ist also eine Rückkehr zu alten sozialdemokratischen Grundsätzen, ein Zurück in die Zukunft. „Wir haben allen Grund, eine linke Volkspartei sein zu wollen“, sagt Norbert Walter-Borjans. „Und wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts, und in meinem Fall aus langer gemeinsamer Geschichte auch Johannes Raus, ein Linksschwenk der Partei ist, dann bitte sehr, dann machen wir gemeinsam einen ordentlichen Linksschwenk.“

    Wie der aussehen könnte, erklärt er auch gleich: „Wenn die schwarze Null der Zukunft unserer Kinder im Weg steht, dann muss sie weg. Und notfalls gilt das auch für die Schuldenbremse“, sagt Walter-Borjans – wohl wissend, dass das mit der Union kaum zu machen sein wird. Es ist eine Drohung aus sicherer Distanz, zum Schwur kommt es erst, wenn er seinen Kollegen aus CDU und CSU im Koalitionsausschuss gegenüber sitzt. Bis dahin wird diese Aufgabe den SPD-Ministern mit auf den Weg gegeben. Allen voran dem eigenen Finanzminister Olaf Scholz, der sich nicht nur durch den Sieg der GroKo-Skeptiker demütigen lassen musste, sondern nun auch deren Kurs umsetzen soll.

    Auch beim Klimaschutz will Walter-Borjans, der bis zum Donnerstag noch einfacher Politik-Rentner war, nachlegen: „Sollen wir als SPD zu einer ganzen Generation sagen: Ihr habt ja Recht, aber wir müssen die Rettung des Klimas verschieben, weil wir ein bisschen Ruhe in der Großen Koalition brauchen?“

    Saskia Esken inszeniert sich als Frau von unten

    Saskia Esken, mit rotem Hosenanzug und leicht schwäbischem Zungenschlag, inszeniert sich als Frau von unten. Sie spart nicht an Pathos, ein Ruck mag trotzdem nicht durch die Reihen gehen. Immer wieder spricht sie von ihrer eigenen beruflichen Vergangenheit als Paketbotin, dass sie es dank einer Partei wie der SPD geschafft habe, sich zur Software-Entwicklerin empor zu arbeiten. „Ich kenne die Lebensbedingungen der Menschen“, ruft sie ins Mikrofon.

    Auch was sie will, lässt sich schnell zusammenfassen: den Ausbau des Sozialstaates und den Abbau des Niedriglohnsektors. „Wir waren die Partei, die Hartz IV eingeführt hat. Wir sind die Partei, die Hartz IV überwindet und durch ein neues System ersetzt.“ Ein Seitenhieb auf Gerhard Schröder kommt bei der SPD immer gut an.

    Schick, schick, Frau Vorsitzende: Saskia Esken trägt bunte Turnschuhe beim SPD-Bundesparteitag.
    Schick, schick, Frau Vorsitzende: Saskia Esken trägt bunte Turnschuhe beim SPD-Bundesparteitag. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Eine kleine Unterstützergruppe versucht durch Johlen, den Begeisterungspegel in der großen Halle nach oben zu treiben. Parteitags-Folklore eben. „Die SPD kann wieder stark werden, wenn sie zu ihren Überzeugungen steht“, sagt sie. „Standhafte sozialdemokratische Politik“ nennt sie das, was sie vorhat. Ökologische Technologien, Arbeitsmarktreformen, staatliche Investitionen, soziale Fortschritte, Datenschutzgrundverordnung: Es ist nicht das Vokabular, das wunde Seelen heilt. Am Ende erheben sich die Delegierten und applaudieren. Minutenlang. Wer mag, kann die Erleichterung heraushören, dass der große Knall ausbleibt. Aufbruchstimmung jedenfalls ist es nicht, die der SPD aus den Poren quillt.

    Doch darauf verlassen, dass Harmonie zum neuen Dauerzustand der SPD wird, sollten sich die beiden neuen Parteichefs Esken und Walter-Borjans nicht. Die Sozialdemokraten sind nicht bekannt dafür, pfleglich mit ihren Vorsitzenden umzugehen. Den einst gefeierten Martin Schulz haben sie geradezu ins Bodenlose stürzen lassen.

    Seine Nachfolgerin Andrea Nahles, die erst im Sommer ihr Amt abgegeben hat, gefühlt aber wie für eine andere Zeit in der SPD steht, ist noch nicht einmal mehr anwesend bei diesem Parteitag. Ihr Bundestagsmandat hat sie abgegeben, die Politik erschöpft an den Nagel gehängt. Dass ausgerechnet sie auf dem Podium am Freitag immer wieder erwähnt wird, dürfte nicht nur Nahles selbst geradezu grotesk vorkommen.

    Man kann der SPD viel vorwerfen, aber nicht, dass sie nicht um die eigenen Schwächen weiß. Es sind daher nicht einfach nur Reden, die da auf der Bühne der Messehalle gehalten werden. Es sind wahre Beschwörungsformeln. Endlich müsse die SPD ein Signal der Geschlossenheit senden, endlich müsse die SPD aufhören mit der Selbstbeschäftigung, ja Selbstzerfleischung. „Wir haben uns oft nicht von der besten Seite gezeigt“, sagt Generalsekretär Lars Klingbeil. „Damit muss Schluss sein.“ Fast schon flehentlich ruft die scheidende kommissarische Vorsitzende Malu Dreyer: „Für mich ist diese Partei eine Wertepartei. Und ein Wert ist entscheidend: die Solidarität.“

    Brutal wird über das jeweils andere Lager hergezogen

    Und doch wissen beide ganz genau: Wenn die Mikrofone aus sind, spricht man anders in der SPD. Beinahe schon brutal wird über das jeweils andere Lager hergezogen. Wer bei den Sozialdemokraten nach Häme sucht, muss nicht tief schürfen. Der Praxistest für die neu gewählte Parteiführung ist daher nicht dieser Parteitag, es ist der Alltag, der spätestens am Montag eintreten wird.

    Dann nämlich muss die neue Parteiführung klarstellen, wie sie den beinahe unmöglichen Spagat schaffen will: Neuanfang und Verbleib in der Großen Koalition. Wie sie die Lager zusammenführen will, die wochenlang gegeneinander Wahlkampf gemacht haben. Wie sie jene nicht enttäuschen will, die so sehr auf einen klaren Bruch gehofft hatten. Die Gräben, sie sind auch nach diesem Schicksalsparteitag nur mühsam überdeckt. Dass am Abend sowohl Arbeitsminister Hubertus Heil (der für das Scholz-Lager steht) als auch Juso-Chef Kevin Kühnert (Lager Esken-Walter-Borjans) in den Parteivorsitz gewählt werden, kann nicht mehr als ein Feigenblatt sein. Es steht eher sinnbildlich dafür, dass die SPD neue Konflikte scheut. Wie das mit der Sehnsucht nach Führung zusammenpasst, wird sich erst noch zeigen müssen.

    Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, hält bei seiner Rede beim SPD-Bundesparteitag eine blaue Socke hoch.
    Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, hält bei seiner Rede beim SPD-Bundesparteitag eine blaue Socke hoch. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Hilde Mattheis, die linke Abgeordnete aus Ulm, hat jedenfalls nicht vor, sich mit der GroKo zu arrangieren. Wie die Stimmung ist? „Beschissen“, sagt sie – weichgespült sind ja schon die Worte der anderen. Ob sie nicht mit den Ankündigungen von Esken und Walter-Borjans zufrieden ist? „Die Schwarzen werden da doch nicht mitmachen“, sagt sie und lacht auf. „Das ist schon ein bisschen kurios hier.“ Einen Aufbruch, den sie sich so dringend gewünscht hat, kann Mattheis jedenfalls nicht erkennen.

    Und am Ende geht es nicht nur um die SPD-Mitglieder selbst, sondern um alle Wähler. Ob die nach dem Parteitag wirklich wissen, wohin die Sozialdemokraten steuern, werden die nächsten Umfragen zeigen. Heute bewegt sich die Partei auf 15-Prozent-Niveau. Die SPD als Partei der Gerechtigkeit und des Sozialen – Martin Schulz schaffte damit in seinem Wahlkampf als Kanzlerkandidat nur ein kurzes Hoch.

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