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SPD-Krise: Andrea Nahles wirft hin – die Kämpferin mag nicht mehr

SPD-Krise

Andrea Nahles wirft hin – die Kämpferin mag nicht mehr

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    Andrea Nahles ist von all ihren Ämtern zurückgetreten.
    Andrea Nahles ist von all ihren Ämtern zurückgetreten. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Ihre Eltern, sagt Andrea Nahles, hätten sie dazu erzogen, niemals vor Verantwortung wegzulaufen. „Und sie haben mir den nötigen Mumm vermittelt, um meinen Lebensweg auch in schwierigen Situationen selbstbewusst zu gehen“, schreibt die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschland. Später, in der Politik, habe sie gemerkt, dass man mit einem solchen Auftreten als Frau auch anecke und Kritik provoziere. „Davon habe ich mich allerdings niemals abschrecken lassen.“ Seit Sonntag sind diese Worte nur noch Hülsen. Die 48-Jährige hat ihren Rückzug aus der Bundespolitik angekündigt. Sie wirft als Partei- und Fraktionsvorsitzende hin, auch ihr Bundestagsmandat will sie zurückgeben.

    Andrea Nahles hat ihren Mumm verloren

    Ihren Mumm hat Nahles in den letzten Tagen und Wochen verloren. Vor allem die Männer in der Partei machen ihrer Frontfrau das Leben schwer. Arbeitsminister Hubertus Heil etwa kündigt eine Grundrente an, vergisst aber die Finanzierung. Die liefert er später zusammen mit dem Genossen und Bundesfinanzminister Olaf Scholz zwar nach. Aber die Rechnung hat mehr Löcher als ein altes Paar Socken und hält einer kritischen Betrachtung nicht stand. Nahles weiß als ehemalige Arbeitsministerin, dass hier massive handwerkliche Fehler gemacht wurden und ein sozialdemokratisches Prestigeobjekt beerdigt wurde, bevor es überhaupt Zeit zum Atmen hatte.

    Die alleinerziehende Mutter hat schon in diesen Tagen vor der Europawahl nicht mehr die Kraft, die Partei zu führen. Sie lässt Führungsqualitäten vermissen, macht sich rar. Wenn sie doch auftritt, sieht die Öffentlichkeit eine Andrea Nahles, der das Politikerinnenleben schwer zugesetzt hat. Ältere Fotos zeigen eine fröhliche, kämpferische Frau. Das typische Lachen jedoch weicht zuletzt einem gequälten Grinsen. Nahles wirkt vorsichtig, sie schaut sich oft um, sie gestaltet nicht mehr, sie ist jetzt eine Getriebene.

    Nahles geht es da wie der Großen Koalition. Die CDU tut sich gerade schwer mit ihrer Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, erst recht seit ihren Äußerungen zur Meinungsfreiheit im Internet nach der Rezo-Debatte. Die CSU kabbelt sich mit der Bayern-SPD, Streitthema ist die Große Koalition in Berlin, die zunehmend nervöser wird. Die Umfragewerte sinken ständig, nur für die AfD gehen sie bergauf, und zwar ausgerechnet im Osten Deutschlands, wo in drei Monaten die Sachsen und die Brandenburger einen neuen Landtag wählen. In den Hinterzimmern gibt vor allem das Spitzenpersonal von

    Andrea Nahles und die SPD haben sich entfremdet

    Es ist der 26. Mai, der Wahlsonntag, an dem Nahles endgültig mit der Abnabelung von ihrer Partei beginnt, auf die sie so stolz ist und der sie seit 30 Jahren die Treue hält. SPD, das steht bei Nahles für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Doch die eigenen Genossen verweigern ihr den Rückhalt, nachdem die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl in Bremen und der Europawahl historische Niederlagen erleiden. Nahles muss ihren Kopf hinhalten. Dabei weiß sie, dass der Niedergang der Sozialdemokratie schon von ihren Vorgängern Martin Schulz und Sigmar Gabriel eingeleitet wurde, dass eigentlich alles schon mit den Hartz-IV-Reformen von Gerhard Schröder begonnen hat.

    Für die heimatverbundene Nahles, die mit ihrer Tochter Ella, 8, in Weiler in der Eifel auf einem alten Bauernhof lebt, muss das brutale Vorgehen derer, die sich ihre Parteifreunde nennen, wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Gabriel etwa stänkert ein ums andere Mal. Juso-Chef Kevin Kühnert wittert seine Chance und kritisiert Nahles offen. Die Frau, die selbst einmal Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation war und in diesen Jahren den Sturz von Rudolf Scharping unterstützte. Auch

    Am Mittwoch nach der Europawahl reißt die letzte Verbindung von Nahles zum restlichen SPD-Spitzenpersonal. Die Bundestagsfraktion hält eine Sondersitzung ab, nachdem Nahles zwei Tage zuvor ihren Job als Fraktionsvorsitzende zur Disposition gestellt und vorgezogene Neuwahl angekündigt hat. Nahles schaltet in den Kampfmodus. Andere aber nennen es ihren finalen Fehler. Schließlich hatte zuvor Einigkeit darin bestanden, dass jetzt nicht die Zeit für Personaldebatten sei. Die Sitzung jedenfalls gerät zum Spießrutenlauf, Nahles muss durch eine lange Gasse von Kritikern, jeder darf mal draufhauen. Der Spiegel berichtet von direkten verbalen Angriffen, Nahles wird klar gesagt, dass sie es nicht kann.

    Andrea Nahles hat für die SPD viele Erfolge erstritten

    In der Partei ist da in Vergessenheit geraten, dass sie es schon mal ganz gut konnte. Als Bundesarbeitsministerin beispielsweise in den Jahren 2013 bis 2017. Im Eiltempo führt sie damals den gesetzlichen Mindestlohn ein, eine der Kernforderungen der Sozialdemokratie, setzt eine große Rentenreform um und stärkt mit dem Tarifeinheitsgesetz die Rolle der großen Gewerkschaften. Selbst aus dem Arbeitgeberlager bekommt sie Lob.

    Im September 2017 übernimmt Nahles den Fraktionsvorsitz und fällt mit einigen Peinlichkeiten auf. Wie alle in der Partei ist sie überzeugt, dass man in die Opposition geht. Und macht in Richtung Union gleich mal klar, ab sofort „kriegen sie in die Fresse“. Den Begriff Fremdschämen definiert sie wenig später neu, als ihr zu den Koalitionsgesprächen folgende Sätze einfallen: „Die SPD wird gebraucht. Bätschi. Und das wird ganz schön teuer. Bätschi, sage ich dazu nur.“

    Im April 2018 folgt sie auf den krachend gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz als Parteichefin. Ihr Ruf ist da schon schwer beschädigt. Sie wird mit nur 66 Prozent der Stimmen abgestraft. Nahles, die Hoffnungsträgerin, kann das Ruder nicht herumreißen, die Umfragewerte gehen mit ihrer Beliebtheitskurve in den Keller. Bei der Europawahl landen die Sozialdemokraten bei 15,8 Prozent – historischer Tiefststand. Eine Forsa-Umfrage vom Wochenende sieht die einst so stolze Volkspartei nur noch bei zwölf Prozent. Das ist nicht mal mehr halb so viel wie die Grünen.

    Rückhalt für die SPD-Chefin "nicht mehr da"

    Nach der für sie desaströsen Mittwochssitzung ahnt Nahles, dass ihre Tage an der Spitze der Bundestagsfraktion gezählt sind. Einen Gegenkandidaten gibt es zwar noch nicht, aber sie könnte die notwendige Anzahl der Stimmen verfehlen. Das wäre der GAU, mehr Demütigung geht kaum noch. Am Sonntagvormittag zieht sie per Pressemitteilung die Notbremse und tritt von ihren Ämtern zurück. Der „notwendige Rückhalt“ sei „nicht mehr da“.

    Ihr sei im Leben nichts zugeflogen, hat Nahles, die Tochter eines Maurers und einer Finanzangestellten einmal gesagt. Ihr Weg aufs Gymnasium habe über die Realschule geführt. Und: „Dass ich einmal Germanistik und Politikwissenschaften in Bonn studieren sollte, war für mich als katholisches Arbeitermädchen vom Lande keine Selbstverständlichkeit.“ Doch jetzt ist die erste Frau an der Spitze der SPD des Kämpfens müde.

    Die Frau, die immer gegen das Image gekämpft hatte, zu laut, zu polternd und noch dazu intrigant zu sein, mag nicht mehr. Sie ist offensichtlich so kaputt, so erledigt, so gefrustet, dass sie auch die Konsequenzen ihres Handels nicht mehr umstimmen. Nahles weiß, dass sie das politische Berlin ins Chaos stürzt. Die nächsten Tage müssen zeigen, ob die Große Koalition diesen Schlag verkraftet. Ob es Neuwahlen gibt. Oder ob SPD-Minister zurücktreten, was eine Minderheitsregierung oder eine Jamaika-Koalition nach sich ziehen könnte.

    Wie geht es mit dem Großen Koalition weiter?

    Noch klammert sich die Regierungskoalition an die Reste ihrer Macht. Die Spitzen von CDU und SPD kommen sofort nach der Rücktrittsankündigung zu Krisengesprächen zusammen. Von einer „sehr, sehr ernsten Lage“ spricht SPD-Parteivize Malu Dreyer. Sie betont aber auch, dass ihre Partei Wege finden werde, um aus dieser „sehr extremen Situation“ herauszukommen. Das erwartet auch Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie gehe davon aus, dass die SPD „die anstehenden Personalentscheidungen zügig treffen wird“ und die Handlungsfähigkeit der Koalition nicht beeinträchtigt werde, sagt die CDU-Chefin und betont: „Wir stehen weiter zur Großen Koalition.“

    Am Montagmorgen ist dann zumindest klar: Die SPD soll kommissarisch von einem Trio geführt werden. Die engere Parteiführung schlug dafür dem Vorstand die Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig und Malu Dreyer, sowie den hessischen SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel vor.

    Jetzt ist es noch erklärtes Ziel, die Koalition zu erhalten. Für Andrea Nahles indes gilt das nicht mehr. Sie hat das getan, was den anderen womöglich bevorsteht: Loszulassen und anderen das Ruder zu übergeben.

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