Ob der Zeitpunkt bewusst gewählt oder ein wenig sensibles diplomatisches Versehen war? In Genf hatten US-Präsident Joe Biden und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin gerade ihre Gespräche begonnen, da sorgte die EU-Kommission in Brüssel für die passende Begleitmusik. „Die bewussten Entscheidungen und aggressiven Handlungen der russischen Regierung in den letzten Jahren haben eine Negativspirale in Gang gesetzt“, bilanzierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Beziehungen zwischen der EU und Russland.
„Unter den derzeitigen Umständen scheint eine erneuerte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland, die eine engere Zusammenarbeit ermöglicht, in weiter Ferne zu liegen“, ergänzte der Außenbeauftragte der Union, Josep Borrell. Aus seiner Feder stammt der 17 Seiten umfassende Bericht über den Stand der Beziehungen.
Gemeinsam gegen die Bedrohung aus Moskau
Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten die Bilanz in Auftrag gegeben, um bei ihrem nächsten Treffen Ende kommender Woche über den weiteren Kurs gegenüber dem Kreml zu entscheiden. Zentrale Aussage: Die Gemeinschaft sollte „den Bedrohungen und bösartigen Handlungen systematischer und geschlossener begegnen“ und sich dabei internationaler Rückendeckung versichern. Denn die „russische Führung nutzt eine Vielzahl von Instrumenten, um die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie die Länder des westlichen Balkans und der Östlichen Partnerschaft zu beeinflussen, sich in sie einzumischen, sie zu schwächen oder sogar zu versuchen, sie zu destabilisieren“.
Penibel listet der Europäische Auswärtige Dienst (EAD), dessen Chef Borrell ist, die „schwerwiegenden“ Aktionen auf, mit denen die Regierung in Moskau „aggressiv“ vorgehe. Von der Annexion der Krim über den hybriden Krieg in der Ostukraine bis hin zu den Hackerangriffen auf Regierungsrechner auch in Deutschland werden alle Sündenfälle der vergangenen Jahre aufgelistet. Im Vorfeld der Neuwahlen zum russischen Parlament, der Duma, gebe es „repressive Gesetze“ gegen angebliche ausländische Agenten und unerwünschte Organisationen.
Der Fall des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny wird ausdrücklich erwähnt. . Bisher habe sich die EU vor allem auf Sanktionen gegen Verantwortliche in Moskau beschränkt. Die Wirkung dieser Maßnahmen sei größer als oft vermutet. „Die russischen Bemühungen, die Streichung von Einzelpersonen (wie Parlamentariern und Regierungsmitgliedern) von der Liste zu erreichen, zeigen, dass die EU-Sanktionen praktische Auswirkungen haben“, heißt es in dem Bericht.
Neu an diesem Papier sind die Schlüsse, die Borrell den Staats- und Regierungschefs nahelegt. Denn er spricht sich keineswegs für neue Sanktionen aus, sondern fordert stattdessen: „Unser Bestreben sollte es sein, Wege zu erkunden, die dazu beitragen könnten, die derzeitige Dynamik allmählich in ein berechenbares und stabileres Verhältnis zu verwandeln.“ Anders ausgedrückt: Das Konzept des Wandels durch Annäherung müsse wiederbelebt werden. Schließlich hätten Moskau und die EU vielfältige gemeinsame Interessen.
Felder für eine potenzielle Zusammenarbeit gibt es genügend
Als Beispiele werden die Gesundheit (Pandemie), der Klimaschutz, der Kampf gegen den Terrorismus sowie die Lösung der Konflikte im Nahen Osten, Libyen und Afghanistan genannt. Und wenn das weiter nicht möglich ist? „Die EU wird auf die böswilligen Aktionen der russischen Regierung in angemessener Weise reagieren“, schreibt Borrell in seinem Bericht und ergänzt das mit einer Ankündigung. Demnach solle die Gemeinschaft „darauf abzielen, die Ressourcen zu begrenzen, auf die die russische Regierung zurückgreifen kann, um ihre störende Außenpolitik zu fortzusetzen“.
Was die 27 EU-Staatenlenker aus diesen Empfehlungen machen werden, ist offen.