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Rückblick aufs Jahrzehnt: Das Jahrzehnt geht zu Ende - und alles bleibt anders

Rückblick aufs Jahrzehnt

Das Jahrzehnt geht zu Ende - und alles bleibt anders

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    Ein Badegast winkt Flüchtlingen aus Syrien zu, die aus der Türkei mit einem Schlauchboot an die Küste der griechischen Insel Lesbos kommen. In Deutschland beherrschte das Thema Migration ab 2015 die Schlagzeilen.
    Ein Badegast winkt Flüchtlingen aus Syrien zu, die aus der Türkei mit einem Schlauchboot an die Küste der griechischen Insel Lesbos kommen. In Deutschland beherrschte das Thema Migration ab 2015 die Schlagzeilen. Foto: Orestis Panagiotou, dpa

    Wirft man einen (Rück)-Blick auf die 2010er Jahre, dieses zu Ende gehende Jahrzehnt, fällt einem zuallererst ein: Dorothee Bär. Ja, genau, die CSU-Frau aus Franken, die derzeit als Staatsministerin im Bundeskanzleramt die digitale Zukunft unseres Landes sicherstellen soll. Bär hat zuletzt viel Spott einstecken müssen, als sie von "Flugtaxen" schwärmte, die in nicht allzu ferner Zukunft kreuz und quer durch unsere Städte und unsere Lüfte kreuzen würden, eine bequeme und natürlich viel schnellere Alternative zum regulären Taxiverkehr.

    Unmöglich sei das, ein Hirngespinst, so schallte es Bär entgegen, und das waren noch die freundlicheren Kommentare. Aber Bär könnte einfach auf einen Film verweisen, der genau in dem Jahr spielt, in dem wir uns gerade befinden, ein moderner Filmklassiker: "Blade Runner", mit Harrison Ford, gedreht im Jahr 1982, aber angesiedelt in der damals so fernen Zukunft, dem Jahr 2019.

    Auf die Flugtaxis von Dorothee Bär warten wir bis heute vergeblich

    In dem Film reisen Ford und Filmgefährten eben ganz geschwind durch (zugegebenermaßen ausgesprochen düstere) Häuserschluchten, per Flugtaxi. Also muss man sich zum Ausklang dieses Jahrzehnts (und auch wenn nun mittlerweile die ersten Prototypen in die Luft steigen wie unlängst bei uns in Donauwörth) durchaus fragen: Warum haben wir das eigentlich immer noch nicht hinbekommen, "Blade Runners" zu sein?

    Ein düsteres Bild von der Stadt des Jahres 2019 entwarf Ridley Scott in „Blade Runner“, der 1982 ins Kino kam. Harrison Ford jagte als Blade Runner Deckard im verregneten Los Angeles entflohene Replikanten – menschengleiche Androiden, die nur weiterleben wollen.
    Ein düsteres Bild von der Stadt des Jahres 2019 entwarf Ridley Scott in „Blade Runner“, der 1982 ins Kino kam. Harrison Ford jagte als Blade Runner Deckard im verregneten Los Angeles entflohene Replikanten – menschengleiche Androiden, die nur weiterleben wollen. Foto: Imago images/Mary Evans

    Die Frage passt eigentlich ganz gut zu einem Jahrzehnt-Rückblick: Warum (noch) nicht? Denn zum Ende der 2010er drängt sich bei vielen das Gefühl auf, wir erlebten gerade eine der rasantesten Umbruchphasen der Menschheitsgeschichte: das Smartphone, natürlich, und damit das Internet in jeder Hosentasche. Die Plattformen der "sozialen Netzwerke". Die Streaming-Dienste, die Fernseh-Lagerfeuer um 20.15 Uhr oder mühsamst eingestellte Videorekorder überflüssig machen. Und dann natürlich das Internet ganz generell, in dem jede Information binnen weniger Sekunden "ergoogelbar" ist (ob dieses Wort auch das nächste Jahrzehnt überleben wird?).

    Es ist der vielleicht größte Umbruch seit der Mechanisierung, der Elektrisierung, der Automatisierung durch Computertechnologie. Wir sind im Laufe dieses Jahrzehnts auf jeden Fall endgültig angekommen im digitalen Zeitalter, in der Industrie 4.0 (oder schon 5.0?).

    Aber, die Frage drängt sich auf: Was genau ist dieser Fortschritt eigentlich, was bringt er uns überhaupt? Flugtaxen, wie sie sich Dorothee Bär wünschte, haben wir nicht hinbekommen – aber wie sind wir sonst vorangekommen?

    Das unerfüllte Versprechen des "Arabischen Frühlings" 

    Und da müssen wir bei vielen Punkten ein eher ernüchterndes Fazit ziehen: Das Jahrzehnt begann ziemlich genau mit einem "Arabischen Frühling", den viele Beobachter als die erste demokratische Aufstandsbewegung bezeichneten, die durch soziale Medien erst richtig an Dynamik kamen. Aber es endet mit einem Nahen Osten, der zerklüfteter wirkt denn je – so dass sich manche gar die Diktatoren von einst zurückwünschen. Andere Despoten sitzen heute fester im Sattel als je zuvor. Wir blickten zu Beginn dieses Jahrzehnts auf ein riesiges Land, China, über das viele damals gesagt haben, der Fortschritt des Internets werde dort schon bald für Demokratisierung sorgen. Aber am Ende des Jahrzehnts muss man feststellen, dass sich genau dort eine Überwachungsautokratie etabliert hat. Denn natürlich haben auch Autokraten verstanden, wie sie ihre Untertanen mit elektronischer Hilfe ganz genau vermessen und überwachen können.

    Vor einer Dekade erlebten wir kollektive Begeisterung über den digitalen Wandel – jetzt ist der wahre Luxus der "Digital Detox", die Off-line-Zeit für die wenigen, die sich diese leisten können. Und der Wunsch danach erklärt sich durchaus auch aus der Angst, ob erst unsere Schlüsselindustrien und dann vielleicht wir selber irgendwie überflüssig werden – so wie in Hollywood die größten Stars und Kassenschlager längst animierte Comic-Helden sind, nicht Schauspielstars aus Fleisch und Blut.

    Die Finanzkrise brachte alles auf den Prüfstand

    Die 2010er begannen mit dem Aufräumen nach der Weltfinanzkrise, als alles auf dem Prüfstand stand, auch der Gedanke, ob der Kapitalismus nicht für immer diskreditiert sei, angesichts der vielen Milliarden Euro und Dollar, mit denen genau diese Banker gerettet werden mussten, die eben diese Milliarden verzockt oder selbst eingesteckt hatten.

    Ganz hat er sich davon nicht erholt, dieser Kapitalismus, selbst wenn Deutschland – und speziell unsere Region – ein echtes Boom-Jahrzehnt hinter sich hat. Doch zu dessen Ausklang fragen sich viele: Haben wir die Weichen richtiggestellt, damit so etwas sich nicht wiederholt? Und stehen wir, speziell in Deutschland, tatsächlich gut da nach diesem guten Jahrzehnt oder haben uns andere Länder, andere Weltgegenden, längst abgehängt?

    Die Wehrpflicht ausgesetzt - die Atomkraft als Auslaufmodell 

    Der Kapitalismus ist jedoch keineswegs die einzige erschütterte Institution. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, die Atomkraft gibt es bald auch nicht mehr, große Banken und Industrien taumeln, ein Sänger – Bob Dylan – darf den Literaturnobelpreis entgegennehmen, und James Bond könnte bald eine Frau sein. Selbst zwei Päpste leben nebeneinander – irgendwie. Und dann sind da natürlich die Volksparteien. Was haben sie für ein Jahrzehnt hinter sich, nicht nur die SPD? Sind sie nur erschüttert oder droht gar schon ihre "Zerstörung", die ein YouTube-Star mit blauen Haaren gerade gefordert hat?

    Das Anti-CDU-Video des Youtubers Rezo hatte kurz vor der Europawahl die Parteien aufgeschreckt.
    Das Anti-CDU-Video des Youtubers Rezo hatte kurz vor der Europawahl die Parteien aufgeschreckt. Foto: Privat, dpa

    Wir haben dieses Jahrzehnt begonnen mit dem Ausruf "Yes, we can" von Barack Obama und beenden es mit dem Ausruf "Das kann er doch nicht machen!" – fassungslos angesichts eines Donald Trump oder einen Boris Johnson.

    Während beim Ausbruch einer terroristischen Anschlagserie in den Jahren 2014 und 2015 die Welt noch stillzustehen schien, haben wir uns längst an die Bedrohung gewöhnt. Betonpoller gehören zu Weihnachtsmärkten wie Glühwein und gebrannte Mandeln.

    Der Klimawandel als neues Megathema  

    Und bei all dem haben wir vom Klimawandel noch gar nicht gesprochen. Es soll sich bei der zurückliegenden Dekade um das heißeste Jahrzehnt der Menschheitsgeschichte handeln, aber so viel hitzige Aufregung war dann doch nicht feststellbar – gerade bei der Weltklimakonferenz in Madrid. Es sei denn, es geht um die Frage, ob Greta Thunberg – vielleicht im Rückblick die Frau dieses Jahrzehnts? – nun im Zug in der 1. Klasse oder auf dem Gang sitzend von der Konferenz in die Heimat unterwegs war.

    Klima-Aktivistin Thunberg sitzt am Boden eines deutschen Zugs.
    Klima-Aktivistin Thunberg sitzt am Boden eines deutschen Zugs. Foto: Twitter

    In diesen Tagen spielen viele die "10 Years Challenge" in den sozialen Netzwerken. Wie sah man vor zehn Jahren aus, wie heute. Wie sah unsere Welt aus? Man erschreckt sich, man freut sich, man schaut hin. Und das lässt sich sicher sagen, bei allen Bedenken, bei allen Sorgen: Es war ein volles Jahrzehnt, hineingegriffen ins "volle Menschenleben", wie es Goethe gesagt hätte. Oder, wie es der moderne deutsche Nuschel-Goethe, Herbert Grönemeyer, singen würde: "Bleibt alles anders", denn "Stillstand ist der Tod".

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