Syrien ist ein materiell, politisch, gesellschaftlich und moralisch verwüstetes Land – das ist die niederschmetternde Bilanz nach einem Krieg, der seit 2011 wütet. Doch jetzt wächst die Gefahr, dass sich die Lage in einigen Landesteilen weiter verschlechtern könnte: Die UN-Hilfsmission, die bis zu drei Millionen notleidende Menschen in Syrien unterstützt, stand vor dem Ende. Zunächst sah es so auch, als könne sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht auf die Verlängerung einer entsprechenden Resolution einigen.
Angesichts der russischen Blockade bemühte sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), gar nicht erst, seinen Zorn zu verhehlen: "Damit sind Millionen syrische Zivilisten von jeder grundlegenden Notversorgung abgeschnitten, die sie dringend zum Überleben brauchen", sagte Röttgen unserer Redaktion. Für den 54-Jährigen bahnte sich nicht nur eine neuerliche "humanitäre Katastrophe" an, sondern "vielmehr ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn man bedenkt, dass Russland und China einen gemeinsamen Vorschlag von Deutschland, Belgien und Kuwait zur einjährigen Verlängerung der Hilfslieferungen im UN-Sicherheitsrat blockiert haben." Russland ist der militärisch und politisch wichtigste Verbündete des Assad-Regimes.
Kompromiss um Hilfslieferungen für Syrien: Russland setzt sich in weiten Teilen durch
Offiziell lief die Mission am Freitagabend aus - kurz zuvor gab es dann aber doch noch eine Einigung. Der verabschiedete Text fällt jedoch deutlich hinter die bisherige Regelung zurück und liegt näher an der Position Moskaus. Die seit 2014 bestehende Resolution hatte es den UN erlaubt, wichtige Hilfsgüter über bislang vier Grenzübergänge in Teile des Landes zu bringen, die nicht von Assad kontrolliert werden.
Der bei elf Zustimmungen und vier Enthaltungen beschlossene Kompromiss - der von Deutschland und Belgien vorgelegt wurde - enthält ebenfalls nur die zwei Grenzübergänge an der türkisch-syrischen Grenze. Das Mandat läuft nach einem halben Jahr ab. Der vor allem für medizinische Güter wichtige Übergang Al-Jarubija im Osten an der Grenze zum Irak sowie ein weiterer an der Grenze zu Jordanien im Süden Syriens sind für den UN-Mechanismus künftig geschlossen. Generalsekretär António Guterres wird in dem Text darum gebeten, bis Ende Februar Vorschläge für neue Korridore zu machen, um die Notleidenden und nun möglicherweise Abgeschnittenen im Nordosten des Landes besser erreichen zu können.
Hilfe für 1,4 Millionen Menschen in Syrien ist gefährdet
Deutschlands UN-Botschafter Christoph Heusgen räumte ein, dass der erreichte Kompromiss angesichts eines russischen Vetos zu einem "sehr hohen Preis" erreicht wurde. "Morgen werden 1,4 Millionen Menschen im Nordosten Syriens aufwachen und nicht wissen, ob sie weiterhin medizinische Hilfe erhalten werden, die sie dringend brauchen", sagte Heusgen. Anders als von den Russen behauptet gebe es keine Möglichkeit, diese Hilfe auf anderen Wegen ins Land zu bringen.
Die US-Botschafterin Kelly Craft äußerte sich drastisch: "Syrer werden sterben als Folge dieser Resolution", sagte sie. Was Russland mit seiner Blockade angerichtet habe, sei "schockierend". Die Resolution sei "völlig unzulänglich für die Bedürfnisse des syrischen Volkes". Auch die britische UN-Botschafterin Karen Pierce sprach von einer "unpassenden Antwort auf die Situation am Boden".
Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja hielt dagegen: "Ihnen wurde gesagt, dass das böse Russland humanitäre Hilfe nach Syrien blockiert. Das ist nicht wahr." Tatsächlich sei die Region um Idlib im Nordwesten des Landes die einzige Gegend, die auf diese Art von Hilfe angewiesen sei - und sie werde durch die zwei Grenzübergänge weiter versorgt. Für den Nordosten des Landes komme die benötigte Versorgung schon lange aus Syrien selbst, nicht aus dem Irak.
In Syrien gibt es nur wenige Familien, die von dem blutigen Konflikt nicht betroffen sind. Insbesondere der derzeit umkämpfte Norden des Landes, aber auch viele Regionen, in denen nach dem Vormarsch der Truppen des Regimes von Baschar al-Assad die Waffen schweigen, sind humanitäres Notstandsgebiet. Es fehlen Nahrungsmittel und Medizin, die Kindersterblichkeit ist sehr hoch.
Save the Children geht davon aus, dass im Schnitt täglich ein Kind bei Kampfhandlungen getötet wird
Besonders erschütternd ist die Situation in der nordwestlich gelegenen Provinz Idlib, das letzte große Rebellengebiet in Syrien. Dort leben Kämpfer verschiedener, zum Teil radikalislamistischer Milizen auf engem Raum mit der angestammten Bevölkerung und vielen tausend Flüchtlingen.
Je nach Schätzung halten sich dort zwischen 2,3 und 2,7 Millionen Menschen auf – viele von ihnen sind komplett von den UN-Hilfslieferungen abhängig. Gleichzeitig fordern die immer wieder aufflackernden, schweren Gefechte viele Opfer, darunter immer wieder Mädchen und Jungen. Die unabhängige Kinderschutzorganisation Save the Children geht davon aus, dass im Durchschnitt jeden Tag ein Kind bei Kampfhandlungen getötet wird – im Dezember habe es 36 minderjährige Opfer gegeben. Sorge bereitet der Hilfsorganisation auch das einsetzende Winterwetter, da viele Familien, die vor Luftangriffen geflohen sind, der Kälte schutzlos ausgeliefert seien.
Vor diesem Hintergrund ist es für Röttgen völlig unverständlich, dass Russland behauptet, "dass sich die Situation in Syrien bereits dramatisch verbessert habe" - Russland hatte argumentiert, das deshalb eine einjährige Verlängerung der Hilfsleistungen nicht nötig sei. Für den CDU-Politiker eine Aussage, die "an Zynismus kaum zu überbieten ist".
Immerhin meldete die russische Nachrichtenagentur Tass am Freitag, dass ein zwischen Russland und der Türkei ausgehandelter Waffenstillstand in Kraft getreten sei. Ankara unterstützt Rebellengruppen, die gegen Assad kämpfen. (mit dpa)
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