Stolz treten sie aus der unscheinbaren Tür neben der großen Freitreppe auf der Ostseite des Kuppelbaus. Sie schwenken Fahnen, recken die Arme in die Höhe, grölen. "Wir haben die Auszählung gestoppt!", ruft einer stolz. Umstehende klatschen. "Wir kämpfen für Trump!", skandieren die Randalierer, die kurz zuvor das Kapitol gestürmt haben. "USA! USA!"
Eigentlich ist der Kapitolshügel mit dem eindrucksvollen klassizistischen Parlamentsgebäude, dem strahlend weißen obersten Gerichtsgebäude und der riesigen Kongressbibliothek ein erhabener Ort. Von hier kann man weit hinunter auf die von dem französischen Migranten Pierre L’Enfant voller Symbolik entworfene Stadt blicken: über den Nationalpark National Mall und das Washington Monument bis zum bis zum Lincoln Memorial in der Ferne. Das vergleichsweise kleine Weiße Haus sieht man von hier aus nicht.
Das Drehbuch für den Sturm auf das Kapitol schrieb der entfesselte Donald Trump
Doch an diesem Mittwoch, später Abend deutscher Zeit, verkommt die Herzkammer der stolzen amerikanischen Demokratie zum Schauplatz eines surrealen Putschversuches, der als ein Tiefpunkt in die US-Geschichte eingehen wird. Das Drehbuch für die wilde Revolte ist nirgendwo anders als im Oval Office der Regierungszentrale geschrieben worden. Dort sitzt Donald Trump, der sich seit seiner Wahlniederlage komplett in eine wütende Wahnwelt der verletzten eigenen Großartigkeit hineingesteigert hat. Und irgendwie ist es konsequent, dass seine von Chaos und Hass gezeichnete Präsidentschaft an diesem Tag in einem albtraumhaften Finale mündet.
Die Parlamentssitzung am 6. Januar ist normalerweise ein rein zeremonieller Akt, bei dem die Abgeordneten und Senatoren das Ergebnis der Präsidentschaftswahl mitgeteilt bekommen. Doch Trump hat das Datum seit Wochen zu einer Art nationalem Widerstandstag verklärt. So sind die Frauen und Männer, die bizarrerweise unbehelligt von der Polizei das Kapitol verlassen, für die Gesinnungsgenossen vor der Tür patriotische Helden: Sie haben die Institution gestürmt, die sie ihrer Stimmen berauben will – so denken diese Leute. Keineswegs alle hier sehen wie Randalierer und Gewalttäter aus. Neben bärtigen Muskelmännern mit Baseballschlägern und rechtsextremen Milizionären haben sich auch Ehepaare und Familien versammelt. Sie alle haben für Trump gestimmt. Und alle sind fest überzeugt, dass nicht Joe Biden, sondern ihr Idol gewonnen hat.
Gut eine Stunde zuvor haben sich hier Szenen abgespielt, die man sonst nur aus korrupten, gescheiterten Staaten kennt. Der Senat im Nordflügel des Kapitolsgebäudes debattiert gerade das Ansinnen mehrerer Trump-treuer Republikaner, das Wahlergebnis des Bundesstaats Arizona wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten nicht anzuerkennen. Energisch hatte Mehrheitsführer Mitch McConnell, bislang ein eiserner Vollstrecker des präsidialen Willens, gewarnt, ein solcher Schritt werde die US-Demokratie "in eine Todesspirale" schicken. Da konnte McConnell noch nicht ahnen, dass seine dunkle Metapher bald blutige Wirklichkeit werden würde. Nicht alle Anwesenden begreifen sofort, was sich abspielt, als kurz darauf zunächst Vizepräsident Mike Pence und dann andere Spitzenpolitiker vom Secret Service aus dem Saal geführt werden. Die verbliebenen Abgeordneten werden aufgefordert, sich flach auf den Boden zu legen und Gasmasken anzulegen, während Polizisten die Türe mit einem großen Möbelstück verrammeln.
Sturm auf das Kapitol - warum war die Polizei so schlecht vorbereitet?
Hunderte gewaltbereite Trump-Fans haben nämlich die Absperrgitter rings um das Kapitol einfach überrannt, Fenster und Türen des Gebäudes eingeschlagen. Rasch strömen sie mit Trump- und Konföderiertenflaggen die Treppen herauf, posieren in der berühmten Rotunde für Selfies und stürmten Büros von Abgeordneten und Senatoren. Ein Randalierer legt demonstrativ die Füße auf den Schreibtisch von Parlamentssprecherin Nancy Pelosi und lässt sich fotografieren. Derweil werden die umliegenden Bürogebäude nach dem Fund zweier Rohrbomben evakuiert. Im Kapitol selbst kommt es zu Rangeleien mit der völlig überforderten Polizei, eine fanatische Trump-Anhängerin wird beim Versuch, eine Barrikade zu überwinden, von der Polizei angeschossen und erliegt später ihren Verletzungen. Drei weitere Menschen kommen bei medizinischen Notfällen ums Leben. 14 Polizisten werden teils schwer verletzt.
Dort, wo normalerweise scharfe Einlasskontrollen und strengste Verhaltensregeln von zahlreichen Sicherheitskräften überwacht werden, herrschen für Stunden Chaos und Anarchie. Weshalb die Polizei so schlecht vorbereitet ist und sich für eine endlos scheinende Zeit rein passiv verhält, kann auch Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser in einem Interview mit dem Sender CNN nicht erklären. Angeblich hatte sie die Nationalgarde zur Hilfe rufen wollen. Doch Trump, der die Truppe gerne auf friedliche linke Demonstranten einprügeln lässt, soll nicht reagiert haben. Erst später rief Vizepräsident Pence die Militäreinheit zur Hilfe.
Dabei kam der Sturm auf das Kapitol alles andere als überraschend. Seit Tagen schon wütete Trump über seine Wahlniederlage und hatte für den 6. Januar zu einer großen Protestkundgebung nach Washington geladen. "Seid dabei. Es wird wild!", schrieb er vielsagend. Genauso war es am Mittwochmorgen auf einer Wiese südlich des Weißen Hauses losgegangen, wo der Präsident zu einigen tausend hartgesottenen Fans sprach, die aus der ganzen Republik angereist waren.
Trotz der Krawalle halten einige US-Senatoren an der Treue zu Trump fest
Nach endlosem Lamento über vermeintliche Wahlmanipulationen warnte Trump vor einem "illegitimen Präsidenten Joe Biden" und proklamierte: "Wir werden niemals einlenken, wir werden niemals aufgeben!" Ausdrücklich schickte er die Meute auf den Marsch zum Kapitol: "Ich werde es mir anschauen, denn es wird Geschichte geschrieben." So sollte es auf düstere Weise tatsächlich kommen.
Eindringlich fordert der neu gewählte Präsident Joe Biden seinen Vorgänger während der Ausschreitungen auf, mit einer Fernsehansprache dem Treiben ein Ende zu bereiten. Doch Trump meldet sich nur mit einer kurzen Videobotschaft zu Wort, in der er zwar um einen friedlichen Abzug bittet, gleichzeitig aber erklärt: "Ich verstehe euren Schmerz. (…) Das sind Dinge, die passieren, wenn ein ehrwürdiger Erdrutschsieg bei einer Wahl auf so bösartige Weise den großartigen Patrioten entrissen wird."
Es dauert fast vier Stunden, bis die Besetzung des Parlaments beendet ist und die Polizei die Eindringlinge zurückdrängen kann. Als Senat und Abgeordnetenhaus um 20 Uhr wieder zusammenkommen, ist draußen, in ganz Washington, eine Ausgangssperre verhängt worden. Drinnen setzen sechs republikanische Senatoren und dutzende Trump-treue Abgeordnete unterdessen ihre Revolte gegen die Anerkennung der Biden-Stimmen fort. Am Ende ohne Erfolg: Vizepräsident Pence erklärt in den frühen Morgenstunden Joe Biden endgültig zum Wahlsieger. Auch aus Georgia kommen für die Demokraten gute Nachrichten: Deren Vertreter Jon Ossoff hat den zweiten Senatssitz des Staates gewonnen. Damit wird der künftige Präsident über eine hauchdünne Mehrheit in beiden Kammern des US-amerikanischen Parlaments verfügen.
Den USA stehen zwei möglicherweise höchst gefährliche Wochen bevor
Doch Freude und Erleichterung wollen in Washington gerade nicht aufkommen. Vor den Amerikanern liegen nämlich noch zwei möglicherweise höchst gefährliche Wochen bis zur Vereidigung des neuen Regierungschefs. Zwar verpflichtet sich Trump in einer kurzen Stellungnahme zu einer friedlichen Amtsübergabe und gesteht damit erstmals indirekt seine Niederlage ein. Zugleich widerspricht er aber ausdrücklich dem Wahlergebnis und behauptet erneut, dass die Fakten auf seiner Seite seien.
Das lässt für die nächsten Tage nichts Gutes erwarten. Und dann ist auch gar nicht klar, wie die Amtseinführung von Joe Biden organisiert werden soll. Die Tribüne auf der Westseite des Kapitols, auf der er eigentlich seinen Eid ablegen soll, wurde von den Trump-Vandalen im Sturm erobert. Eine Absage oder Verlegung der Veranstaltung aus Angst vor Krawallen aber wäre wohl das zynischste Erbe, das der vermeintliche "Law-and-Order"-Präsident Trump, der so oft den Ruf nach Gesetz und Ordnung proklamierte, seinem Nachfolger hinterlassen könnte.
Welche Folgen die denkwürdigen Geschehnisse von Washington für ihn selbst haben? Am Tag danach passiert virtuell immerhin das: Facebook verbannt Trump bis auf Weiteres von seiner Plattform. Mindestens in den verbleibenden zwei Wochen bis zum Amtsantritt Bidens bleiben seine Accounts bei dem Online-Netzwerk sowie Facebooks Fotoplattform Instagram gesperrt.
Und konkret, in der Realität? Washingtons Bürgermeisterin fordert, den amtierenden Präsidenten für den "beispiellosen Angriff auf unsere Demokratie" zur Rechenschaft zu ziehen. "Was gestern passiert ist, ist genau das, was er wollte", sagt Muriel Bowser. Die Täter müssten festgenommen und vor Gericht gestellt werden, fordert sie.
Die Polizei nahm im Laufe des Abends 68 Personen fest. Und der geschäftsführende US-Justizminister Jeffrey Rosen verspricht tags darauf eine konsequente Strafverfolgung der Randalierer. Sein Ressort werde sicherstellen, dass die Verantwortlichen für die "Attacke" auf die Regierung und die Rechtsstaatlichkeit im Land für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen würden, so Rosen. Die ersten Anklagen sollten bereits im Laufe des Donnerstags vorgebracht werden. In den kommenden Tagen und Wochen sollten weitere Festnahmen folgen. Von Donald Trump spricht Rosen nicht.
Aber Nancy Pelosi, nach Rückeroberung ihres Schreibtisches. Sie fordert die sofortige Absetzung des Präsidenten, indem der noch mit ihm amtierenden Vizepräsident Pence ein Amtsenthebung in die Wege leiten solle. Auf Basis des Zusatzartikels 25 der US-Verfassung, nach dem dies sofort möglich ist, wenn ein Präsident für "unfähig" erklärt wird, "die Rechte und Pflichten des Amtes auszuüben". Selbst Republikaner wie der Gouverneur von Maryland, Larry Hogan, stoßen ins gleiche Horn: Trump absetzen, jetzt! Während bereits das erste Kabinettsmitglied von sich aus zurücktritt: Verkehrsministerin Elaine Chao, zudem Ehefrau des Mehrheitsführers der Republikaner im US-Senat.
Und Joe Biden spricht. Davon, dass diese Angreifer keine Demonstranten gewesen seien, sondern "inländische Terroristen". Und er spricht von "einem der dunkelsten Tage in der Geschichte" der Vereinigten Staaten.
Auf dieser Seite finden Sie unsere Artikel zum Sturm auf das Kapitol in den USA.
Lesen Sie dazu auch:
- Kommentar: Twitter und Facebook müssen Trumps Profile löschen, um Leben zu schützen
- Reaktionen zum Sturm aufs Kapitol: "Schande für unsere Nation"
- Ex-Außenminister Sigmar Gabriel fordert Anklage gegen Donald Trump
- Kommentar: Sturm auf das Kapitol: Amerikanischer Albtraum mit Ansage
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.