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Reportage: Ortsbesuch an der türkisch-griechischen Grenze: „Daran darf man gar nicht denken!“

Reportage

Ortsbesuch an der türkisch-griechischen Grenze: „Daran darf man gar nicht denken!“

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    Syrische Kinder schlafen im Dreck im türkischen Edirne, nahe der Grenze zu Griechenland.
    Syrische Kinder schlafen im Dreck im türkischen Edirne, nahe der Grenze zu Griechenland. Foto: Felipe Dana, dpa

    Sie rütteln an den Gittern, die den Grenzübergang versperren. Mit Stöcken schlagen sie auf den Stacheldraht ein. Sie pfeifen und johlen. Manche sind hoch in die Bäume hinaufgeklettert, damit ihre Botschaft möglichst weit zu hören ist. „Freiheit, Freiheit“ und „Wir wollen nach Europa“, rufen sie. Andere halten selbstgemalte Pappschilder hoch. „Open the gate“, steht auf einem. Öffnet das Tor. Auf einem anderen der Hilferuf: „Merkel help!“ Seit der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Ende Februar die Schlagbäume zu Griechenland öffnete, herrscht Ausnahmezustand am griechisch-türkischen Grenzübergang Kastanies. Immer wieder drohte Erdogan der EU damit, er werde „die Grenztore öffnen“ und Europa mit Millionen Migranten überschwemmen. Hier erlebt man, was das bedeutet.

    Der türkische Präsident versucht, politische Rückdeckung der Europäer für seine Militäroperationen in Syrien zu erzwingen und in Brüssel weitere Milliardenhilfen für die Versorgung der vier Millionen Flüchtlinge locker zu machen, die sein Land bereits beherbergt. Jetzt drängen weitere Hunderttausende Schutzsuchende aus der umkämpften Provinz Idlib in die Türkei – und Erdogan macht Ernst. Geschätzt 15.000 Migranten belagern auf türkischer Seite den Übergang Kastanies. Bis vor wenigen Tagen war hier streng abgeriegeltes militärisches Sperrgebiet. Jetzt lassen die türkischen Soldaten die Migranten bis unmittelbar an die Grenzlinie.

    Aber das blaue Metallgittertor auf der griechischen Seite ist geschlossen. Ein Wasserwerfer ist aufgefahren. Auch in den Wäldern rechts und links der Landstraße, die hier die Grenze überquert, ist kaum ein Durchkommen: Die griechische Armee rollt immer mehr Stacheldrahtbarrieren aus, alle paar Meter stehen schwer bewaffnete Grenzpolizisten mit Helmen und Schutzschilden. Sie treiben Eindringlinge mit Tränengas und Pfefferspray zurück. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis fährt einen harten Kurs: Er will keine irregulären Grenzübertritte dulden. „Griechenland lässt sich nicht erpressen“, sagt er.

    Die Asylverfahren hat Mitsotakis für einen Monat ausgesetzt. Wer die Grenze ohne gültige Papiere überquert, muss mit einem Strafverfahren und mehrjähriger Haft rechnen. Der Regierungschef weiß die große Mehrheit der Griechen hinter sich. Nach einer aktuellen Umfrage halten es neun von zehn Befragten für richtig, dass ihr Land seine Grenzen für die Migranten geschlossen hat.

    Türkische Polizisten schüren Spannungen an Grenze

    Immer wieder fliegen Steine und andere Wurfobjekte über den Grenzzaun. Die türkischen Polizisten auf der anderen Seite schüren die Spannungen. Am Samstagmorgen war durch das Teleobjektiv einer Kamera zu sehen, wie sie Schutzmasken anlegen. Wenig später flogen Tränengasgranaten in hohem Bogen über die Sperranlagen auf die griechische Seite der Grenze. Fast zwei Stunden dauerte der Beschuss. „Das erleben wir mehrmals am Tag“, berichtet ein griechischer Armeeoffizier. Er hebt eine der silberfarbenen Tränengaskartuschen auf. Sie stammt aus türkischer Produktion, wie die rote Beschriftung beweist. Wenn der Wind aus Osten weht, ziehen die Tränengasschwaden bis ins wenige hundert Meter entfernte Kastanies. „Dann brennt es in den Augen“, sagt Mairy, die Besitzerin des Cafés Aigli am Dorfplatz.

    Aigli heißt so viel wie Glanz, Ruhm. Aber viel ist hier nicht los an diesem Morgen. Ein kleines Kränzchen älterer Damen sitzt an einem Tisch. „Früher kamen die meisten Gäste von drüben, aus der Türkei“, erzählt die Wirtin. „Seit die Grenze zu ist, haben wir hier keine Türken mehr gesehen“, sagt Mairy. „Vorher war ein ständiges Kommen und Gehen über die Grenze“, erzählt ihre Freundin Anthi. „Wir haben Kochrezepte mit den türkischen Frauen ausgetauscht, es gab Freundschaften“, sagt sie. „Das ist jetzt vorbei.“ Der einst lebhafte Grenzort Kastanies wirkt wie ausgestorben.

    Derweil drängen sich Reporter auf dem Bahndamm, der an der Grenze entlangführt. Dicht an dicht stehen die Kameraleute und Fotografen dort oben auf dem Gleis, um zu dokumentieren, was an der 300 Meter entfernten Grenze passiert. Ein riskanter Standort, denn mehrmals am Tag kommt ein Triebwagen über die einspurige Strecke. Die Lokführer kennen die neuen Gegebenheiten bereits, drosseln das Tempo und machen mit lautem Tuten auf ihr Herannahen aufmerksam.

    Während sich griechische und türkische Grenzer immer neue Scharmützel liefern, tobt in den sozialen Netzwerken und Medien ein Propagandakrieg. Der türkische Staatschef Erdogan fantasiert von „Hunderttausenden“, die in den vergangenen Tagen bereits die Grenzen nach Europa überquert hätten, bald würden es „Millionen“ sein. Aber wo sind die vielen Menschen? Bulgarien meldet an seiner Grenze zur Türkei „null Migration“. Die griechischen Grenzschützer haben nach eigenen Aussagen bis zum Sonntagmorgen 39.639 Grenzübertritte verhindert. Die Zahl enthält viele Mehrfachnennungen, weil die Migranten immer wieder versuchen, die Sperren zu überwinden. 269 Personen, die es schafften, wurden festgenommen.

    Am Freitagmorgen gab es vor Lesbos einen schweren Zwischenfall

    Zwei Migranten seien von griechischen Grenzern erschossen worden, heißt es in Medienberichten, Erdogan nennt sogar fünf Tote. Der griechische Regierungssprecher dementiert „kategorisch“. Zweifelsfrei klären lässt sich die Nachricht bisher nicht. Zwischen Ankara und Athen herrscht Funkstille. Der bulgarische Regierungschef Bojko Borissow versuchte Erdogan für ein Dreiertreffen mit dem griechischen Premier Mitsotakis zu gewinnen, scheiterte aber: Er wolle weder mit Mitsotakis im selben Raum sein, noch mit ihm fotografiert werden, erklärte Erdogan. Denn Mitsotakis lasse „Migranten töten“.

    Miteinander reden die beiden Nachbarn nicht. Aber immerhin reist Erdogan an diesem Montag zu Verhandlungen über ein neues Flüchtlingsabkommen nach Brüssel. Gleichzeitig trifft Mitsotakis Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Die Kanzlerin, die im Frühjahr 2016 den EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei aushandelte, könnte auch diesmal eine Schlüsselrolle für die Entschärfung des Konflikts spielen. Erdogan sandte bereits vor seiner Abreise nach Brüssel ein Entspannungssignal. Er will offenbar den Migrantenstrom in der Ägäis bremsen. Der Staatschef wies seine Küstenwache an, Migranten-Boote zu den griechischen Inseln zu stoppen, wegen der „hohen Risiken“ dieser Überfahrten.

    Am Freitagmorgen gab es vor Lesbos einen schweren Zwischenfall, als ein Schnellboot der türkischen Küstenwache ein griechisches Patrouillenboot mit hohem Tempo verfolgte und offenbar zu rammen versuchte. Auf der Insel, deren Aufnahmelager mit fast 22.000 Migranten mehr als fünffach überbelegt sind, herrscht eine Pogromstimmung. Am Samstagabend ging ein Gemeinschaftszentrum für Flüchtlinge, das von einer Schweizer Hilfsorganisation betrieben wurde, in Flammen auf. Die Polizei vermutet Brandstiftung. Seit Wochen machen auf Lesbos Rechtsextremisten regelrecht Jagd auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und ausländische Journalisten. Dabei mischen auch ausländische Rechte mit, vor allem aus Deutschland und Österreich.

    Auch an der Grenze im Norden blieb die Situation am Sonntag angespannt. Die Türkei kündigt nun die Entsendung von 1000 Spezialkommandos an, die auf dem Grenzfluss Evros mit Schlauchbooten Patrouille fahren sollen. So wolle man verhindern, dass Griechenland Migranten zurückweist, lautet die Begründung des türkischen Innenministeriums. Damit droht eine weitere Zuspitzung. Der Fluss, dessen Mitte die Grenzlinie bildet, ist stellenweise nur 20 Meter breit. Da sind Grenzverletzungen programmiert.

    Auch die alten Damen im Café Aigli sind besorgt. „Wer weiß, wie das alles endet“, sagt eine der Frauen. Nach dem Einmarsch der Türkei in Syrien müsse man Erdogan „alles zutrauen“, meint sie. „Und die Grenze ist nur wenige hundert Meter von uns entfernt“, sagt eine der Damen mit sorgenvoller Miene. Als dann in der Unterhaltung das Wort Krieg fällt, greift die Cafébesitzerin Mairy schnell ein: „Daran darf man gar nicht denken!“

    Lesen Sie dazu auch: Griechenlands Premier Mitsotakis erklärt Flüchtingspakt für gestorben 

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