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Reportage: Hätte Chinas Regierung die Corona-Pandemie verhindern können?

Reportage

Hätte Chinas Regierung die Corona-Pandemie verhindern können?

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    Alltag in China – aber irgendwie auch nicht: Tanzende Chinesen am Mittwoch in einem Park in Shanghai.
    Alltag in China – aber irgendwie auch nicht: Tanzende Chinesen am Mittwoch in einem Park in Shanghai. Foto: Yifan Ding, Getty Images

    Ob Jogger im Park, Selfie schießende Pärchen vor Kirschblütenbäumen oder junge Leute beim Biertrinken im Pub: In Peking erwacht nicht nur der Frühling, sondern auch so etwas wie Normalität. Die Straßen werden nicht mehr nur von Lebensmittel-Kurieren auf ihren Electro-Scootern befahren, sondern auch von Berufspendlern und Radfahrern. Quasi in Echtzeit lässt sich beobachten, wie in der 20-Millionen-Metropole ein Restaurant nach dem anderen wieder öffnet und die Leute vermehrt auf die Straße gehen – einige schon ohne die omnipräsente Gesichtsmaske.

    Am Mittwoch hat die Nationale Gesundheitskommission 47 neue Corona-Fälle bestätigt, davon stammt nach offiziellen Angaben kein einziger aus dem Land selbst. Bei praktisch allen Neuinfizierten soll es sich um „importierte“ Fälle aus dem Ausland handeln – also um Menschen, die das Virus nach China eingeschleppt haben. So entsteht der Eindruck, als stünde China kurz davor, virusfrei zu werden.

    Nun berichtet das vergleichsweise kritische Magazin Caixin allerdings, dass in Wuhan, quasi der Heimat des Coronavirus, weiterhin täglich mehrere asymptotische Fälle auftreten – also Personen, die zwar positiv auf Covid-19 getestet werden, aber keine Symptome haben. Diese tauchen in China in der Statistik nicht auf. Zudem behauptet Caixin, bei einem neuen Patienten vom Dienstag handele es sich um einen Arzt, der von einem solchen „asymptotischen Fall“ angesteckt wurde. Die Behörden behaupten jedoch: Asymptotische Patienten verbreiten die Infektion nicht weiter.

    Ein Wächter sagt: „Bleiben Sie, wo Sie sind“

    Offiziell ist nur von „importierten“ Neuinfizierten die Rede. Diese müssen grundsätzlich in 14-tägige Quarantäne. Etwa ins Hotel Landmark unweit des Botschaftsviertels in Peking. Wer sich dem retro-futuristischen Betonklotz nähert, wird von zwei Männern in schwarzer Kleidung mit ausgestreckter Hand gebremst: „Bleiben Sie, wo Sie sind. Das ist kein Hotel, das ist die Regierung“, sagt einer. Den Blick in die Lobby kann er jedoch nicht verhindern. Dort sind Männer von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung gehüllt. Ihre Gesichter sind hinter Gesichtsmasken versteckt. Eine Szene wie aus einem Science-Fiction-Film.

    Würde es sich um einen Katastrophenfilm handeln, wäre die jetzige Entwicklung ein aberwitziger Handlungswechsel, der selbst den tollkühnsten Drehbuchschreibern nicht einfallen würde. Die Profifußballer aus Wuhan beispielsweise haben ihr Trainingslager in Spanien wegen der sich dort verschlimmernden Epidemie abgebrochen und sind nach China zurückgekehrt. Der amerikanische Technikriese Apple hat weltweit seine Flagship-Stores geschlossen – bis auf die auf dem chinesischen Festland. Und Chinas Kommunistische Partei spendet Italien medizinisches Material. „In der Anfangsphase haben wir Masken aus Deutschland bekommen. Jetzt versuchen wir Masken aus China nach Deutschland zu schicken“, sagt Thomas Nürnberger, der die Geschäfte des deutschen Mittelständers EBM-Papst in China leitet.

    In Peking berichten Ausländer, dass auffällig viele Chinesen auf der Straße einen weiten Bogen um sie machen. Die Staatsmedien berichten von der Wiedereröffnung des Xiaotangshan-Krankenhauses – eines Feldspitals, in dem 2003 Sars-Patienten behandelt wurden. Nun wird es ausschließlich für aus dem Ausland kommende Corona-Fälle genutzt.

    In China wächst die Angst vor Ausländern

    „Halten Sie Abstand“, sagt auch jetzt ein Mann mit roter Kappe. Er steht vor der Dorfeinfahrt von Zhuishikou, einer Gemeinde, die eine Stunde nördlich der Hauptstadt zwischen kargen Berghängen, Apfelbaumfeldern und Gräbern aus der Ming-Dynastie liegt. Der 300-Einwohner-Ort wird von einem kleinen Fluss umkreist, was ihn wie eine Festung aussehen lässt. Ein stimmiger Vergleich: Am Dorfeingang mustert eine ältere Frau den deutschen Reporter argwöhnisch und ein Bauer sagt: „Wir haben Angst vor Ausländern. Wer weiß, woher die kommen.“

    Das kurze Gespräch mit dem Dorfwächter ergibt: Seit Ende Januar ist Zhuishikou vollständig von der Außenwelt abgeriegelt, niemand außer den Bewohnern darf den Ort betreten. In drei Schichten arbeiten die Dorfwächter rund um die Uhr. Langweilig sei sein Dienst schon, sagt der Chinese, aber was könne man schon machen. Dann nähert sich ein BMW der Sperre. Eine Frau sitzt am Steuer. Der Mann mustert das Nummernschild, misst die Körpertemperatur der Fahrerin und lässt sie schließlich passieren.

    Der nächste geöffnete Supermarkt ist fünf Autominuten entfernt in einem Nachbardorf, das ebenfalls abgeriegelt wurde. Auf einem roten Propagandabanner prangt der Spruch: „Den Kampf gegen das Virus gewinnen wir!“ Ein Wächter in brauner Steppjacke erklärt: „Nur ein einziger Infizierter wäre ein Desaster für unser Dorf. Die Quarantäne-Maßnahmen sind das Beste für mich und auch die Gesellschaft als Ganzes.“

    Schon bald mischt sich Zhang Xuequi in die Unterhaltung, eine Dorfärztin in weißem Kittel. Sie sagt: „Sie sind nicht willkommen hier, schließlich haben wir keine Ahnung, woher Sie kommen.“ Im Ausland sei der Ausbruch des Virus viel schlimmer als in China.

    Das gängige Narrativ der Kommunistischen Partei lautet, man habe durch drastische Maßnahmen wie flächendeckende Quarantäne und „aggressives Aufspüren potenzieller Infizierter aus der Weltgemeinschaft“ zwei bis drei Wochen Zeit erkauft. Die staatlichen Propagandamedien unterschlagen dabei freilich, dass die chinesische Regierung durch eine Mischung aus Inkompetenz und Vertuschungsaktionen die Epidemie überhaupt erst hat eskalieren lassen. Eine am 13. März von der britischen Universität Southampton veröffentlichte Studie besagt, dass es allein im Land zu 95 Prozent weniger Ansteckungen gekommen wäre, hätte Peking seine Gegenmaßnahmen drei Wochen früher gestartet.

    Offiziell ist in China von 3281 Corona-Toten die Rede

    Hat sie aber nicht. Und so weist die Statistik – die offizielle zumindest – am Mittwoch bislang 3281 Todesopfer auf. Insgesamt wurden auf dem chinesischen Festland 81218 Infizierte registriert, von denen sich mehr als 73000 wieder erholt haben.

    Rückblick: Am 10. Dezember fühlte sich Wei Guixian derart schlecht, dass die Händlerin, die auf dem Huanan-Markt in Wuhan Meeresfrüchte verkaufte, eine örtliche Klinik aufsuchte. Dann jedoch setzte sie ganz normal ihren Arbeitsdienst fort. Eine Woche später kämpften die Ärzte um das Leben der 57-Jährigen, die kaum mehr bei Bewusstsein war.

    Lange galt Wei Guixian als eine der ersten aufgezeichneten Fälle von Covid-19 und besagter Fischmarkt in der zentralchinesischen Elf-Millionen-Einwohner-Metropole als gesicherter Ursprungsort des Virus. Dann berichtete die in Hongkong ansässige South China Morning Post unter Berufung auf chinesische Regierungsdokumente, dass sich die erste Ansteckung bis zum 17. November zurückverfolgen lässt. Einen bestätigten „Patienten null“, auf den sich alle Infektionen zurückverfolgen lassen, gibt es bis dato nicht. Zwar gilt als wahrscheinlich, dass der Erreger beim Verzehr einer Fledermaus auf den Menschen übergesprungen ist, doch auch das ist bislang nicht gesichert.

    Fakt ist jedoch: Mindestens 260 Menschen sollen sich bis Ende 2019 in Wuhan und der umliegenden Provinz Hubei infiziert haben. Lokale Ärzte, die von vielen Medien als Whistleblower bezeichnet werden, realisierten spätestens Ende Dezember, dass es sich um ein neuartiges Coronavirus handeln muss. Doch belegen konnten die Ärzte ihre Entdeckung nicht: Das chinesische Zentrum für Seuchenkontrolle und -prävention verweigerte ihnen tagelang die Erlaubnis zur Überprüfung von Virusproben. Zudem ordneten die Lokalbehörden an, dass keine Information über die mysteriöse Lungenkrankheit an die Öffentlichkeit gelangen dürfe. Mehrere Ärzte, die ihr Wissen an Vorgesetzte weitergaben, wurden vom Sicherheitsapparat für das „Verbreiten von Gerüchten“ gemaßregelt.

    Hinzu kommt, dass am 5. Januar ein Forschungszentrum aus Shanghai die Nationale Gesundheitskommission informierte, man habe ein Sars-ähnliches Coronavirus identifiziert und dessen Genomsequenz vollständig kartiert. Doch erst eine Woche später reichte die Regierung diese Information an die Weltgesundheitsorganisation WHO weiter.

    Anfang der Woche verließen mehr als 300 Ärzte und Pfleger die Stadt Wuhan. Sie hatten dort medizinische Hilfe geleistet.
    Anfang der Woche verließen mehr als 300 Ärzte und Pfleger die Stadt Wuhan. Sie hatten dort medizinische Hilfe geleistet. Foto: Chen Yehua/XinHua, dpa

    Zum ersten Mal bestätigte Peking am 9. Januar den Ausbruch einer neuen Infektionskrankheit. Die Regierung sprach damals von 44 Fällen. Heute weiß man, dass das Virus zu dem Zeitpunkt schon unkontrolliert wütete. Am 20. Januar gaben die Gesundheitsbehörden erstmals zu, dass sich das Virus von Mensch zu Mensch übertragen lässt. Dabei hatten Ärzte in Wuhan bereits drei Wochen zuvor Erkenntnisse darüber. „Wir wussten seit damals, dass die Regierung lügt. Aber wir wissen nicht, warum. Vielleicht dachten sie, es könne kontrolliert werden“, zitiert das Wall Street Journal einen Arzt aus Wuhan.

    Corona-Krise: Alarmierende Zahlen aus der Wirtschaft

    Auch wenn die Fallzahlen mittlerweile deutlich gesunken sind, ist das zumindest für die Wirtschaft des Landes kein Grund zum Aufatmen. „Die Krankheit wird weiterhin über den Köpfen der Chinesen schweben, jederzeit kann sie wieder ausbrechen“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Der seit den Neunziger- jahren in China lebende Ökonom hat Ende Februar eine Umfrage unter 577 europäischen Mitgliedsunternehmen durchgeführt. Das Ergebnis war wie zu erwarten alarmierend: Keine Firma mit einer Niederlassung in China leidet nicht unter den wirtschaftlichen Folgen. Ein Viertel rechnet mit Einbrüchen von 20 Prozent und mehr.

    Anfang vergangener Woche hat Pekings Statistikamt Konjunkturzahlen für Januar und Februar veröffentlicht. Demnach ist die heimische Industrieproduktion um 13,5 Prozent gesunken, Anlage-Investitionen gar um ein Viertel. Der historische Einbruch zeigt, dass sich die Führung von den propagierten fünf Prozent Wachstum im Kalenderjahr definitiv verabschieden muss.

    Seit Mittwoch dürfen wieder Menschen die Provinz Hubei verlassen – mit Ausnahme von Wuhan. Dort soll dies erst ab 8. April möglich sein. Und dass das mit der Rückkehr zu so etwas wie Normalität auch noch ein weiter Weg ist, zeigt ein Blick in die Hauptstadt. Vor jeder Wohnsiedlung stehen Wachmänner in provisorischen Zelten und verhindern, dass Fremde das Gelände betreten. Vor Supermärkten kontrollieren nach wie vor Angestellte die Körpertemperatur eines jeden Kunden und erfassen dessen Kontaktdaten. In Restaurants oder Cafés erhalten nur diejenigen Zutritt, die einen Atemschutz tragen.

    Erst ist das Coronavirus von China aus über die Welt geschwappt. Bald wird es vielleicht dieser neue „Normalzustand“ tun, zumindest für eine bestimmte Zeit.

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