Die Welt der Werft ist grau. Die Kaimauern, die Kräne, das Kopfsteinpflaster. Alles ist von Ruß überzogen, vom Schmutz der harten Arbeit. Auch die Menschen sehen so aus. Verschmierte, fahle Gesichter, selbst im Sommer. In den Herzen jedoch ballen sich Wut und Mut.
Bozena Rybicka sieht das Wogen der Gefühle sofort, als sie am 14. August 1980 die Danziger Leninwerft betritt. Sie sieht die solidarische Entschlossenheit in der grauen Masse. Siebzehntausend Menschen arbeiten hier. Normalerweise. Denn nun wird gestreikt. Anlass ist der Rauswurf einer Kranführerin, die einmal zu oft gesagt hat, was sie denkt. Wiedereinstellung, lautet die spontane Forderung. Doch es geht von Anfang an um mehr. Das Grau soll weg. Die Welt der Volksrepublik Polen soll farbiger werden, und das heißt vor allem: freier.
„Es war etwas Metaphysisches in dieser Revolte“, sagt Bozena Rybicka, 62, heute. „Es gab eine ungeheure Konzentration auf diesen einen Punkt. Hier und jetzt. Alles oder nichts.“ Sie sitzt in ihrem Büro im Europäischen Solidarnosc-Zentrum. Das Museum auf dem früheren Werftgelände ist ein monströser Bau, ein Architektur gewordener Machtblock aus rostigen, blutrot schimmernden Stahlplatten. Doch durch die gläserne Decke flutet Licht die Räume, in denen die Geschichte der ersten freien Gewerkschaft im Sowjetblock gezeigt wird.
Kann man auf 3000 Quadratmetern noch diesen einen Punkt finden, vierzig Jahre später? Am ehesten vor zwei Holzplatten, auf denen die Streikenden 1980 ihre Forderungen niederschrieben, in wechselnden Farben, fast schon bunt, bevor sie die Platten an das Werfttor nagelten wie lutherische Thesen: Hier stehen wir, wir können nicht anders. Das Proletariat fordert die Diktatur des Proletariats heraus.
Es ging um Freiheit. Und erst dann um mehr Geld und Fleisch
Damals, als es auf der Werft um alles geht, ist Bozena Rybicka gerade 22 Jahre alt, aber längst im antikommunistischen Untergrund aktiv. Eine junge, lebenshungrige Nahrungsmitteltechnikerin inmitten der Mangelwirtschaft. Doch die materielle Not ist nur das eine, das kleinere Problem. Die Gruppe, der sich Rybicka angeschlossen hat, beruft sich auf die Schlussakte von Helsinki. Dort haben die Machtblöcke 1975 einen Deal geschlossen. Der Westen verspricht Nichteinmischung, der Osten die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Das ist das größere Problem, für Rybicka und die Siebzehntausend auf der Werft. Ihre ersten drei Forderungen lauten: Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften. Streikrecht. Freiheit des Wortes und der Schrift. Erst danach geht es um mehr Geld, Urlaub und Fleisch.
Die Staatsmacht zögert. Anders als 1970, als die kommunistische Führung eine erste Revolte auf der Danziger Werft blutig niederschlagen lässt. 45 Menschen sterben. Zehn Jahre später jedoch gibt es diese Helsinki-Akte. Außerdem liegt die polnische Wirtschaft am Boden. Das Proletariat wird gebraucht. Und vor allem: Die Sowjetarmee ist acht Monate zuvor in Afghanistan einmarschiert. Eine Intervention im Satellitenstaat Polen wäre ein weltpolitischer Offenbarungseid.
Die Menschen in Danzig wittern ihre Chance. Die Bevölkerung schließt sich dem Aufstand an. „Allein wären wir verloren gewesen“, sagt Rybicka. Tausende kommen nun Tag für Tag vor das Werfttor, über dem die Forderungen prangen. Sie bringen Essen, Wäsche, Medikamente. Jeweils um 16 Uhr knien sie nieder und beten. Alle. Gemeinsam.
Bald war halb Polen in der Revolte vereint
Bald ist das halbe Land in der Revolte vereint. In hunderten Betrieben wird gestreikt. Aber auch Universitäten schließen sich an, Symphonieorchester und nicht zuletzt katholische Priester. Denn der Aufstand hat zwei Leitfiguren. In Danzig „zweifelt niemand die Führung von Lech Walesa an“, erinnert sich Rybicka. Der 36-jährige Elektriker mit dem mächtigen Schnauzbart hat schon 1970 mitgekämpft und steckt die Streikenden nun mit seiner unbändigen Energie an. In Rom dagegen hält sich Karol Wojtyla alias Johannes Paul II. zurück, der erste Pole auf dem Heiligen Stuhl. Er muss auch gar nicht mehr viel sagen. Im Jahr nach seiner Wahl zum Papst ist Wojtyla 1979 durch seine katholische Heimat gepilgert. Millionen Gläubige haben seine Worte verinnerlicht: „Fürchtet euch nicht.“
Die Angst ist im Sommer 1980 nicht verschwunden. „Aber das geschwisterliche Miteinander hat uns zum Sieg getragen“, sagt Rybicka. Die Solidarität ist jener Punkt, um den sich alles dreht. Dagegen kommt die geballte Staatsmacht nicht an. Sie lenkt ein. Am 31. August greift Walesa zu einem riesigen Stift mit Papst-Emblem und setzt seinen Namen unter ein Abkommen, das faktisch eine Kapitulationsurkunde der kommunistischen Führung ist. Erstmals wird im Sowjetblock eine Opposition legalisiert. Denn die Gewerkschaft, die nun entsteht und wie selbstverständlich den Namen Solidarnosc trägt, ist in Wirklichkeit eine Freiheitsbewegung. Sie ebnet den Weg zu den friedlichen Revolutionen von 1989.
„Wir haben den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen“, sagt Rybicka. Was folgt, ist eine Kettenreaktion. Die Solidarnosc wächst rasant, auf fast zehn Millionen Mitglieder, die von der Freiheit nicht mehr lassen wollen. Sie feiern einen Karneval im Kommunismus. Gegen den Kontrollverlust hilft auch kein Kriegsrecht mehr, das General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 verhängt. Das Grau kehrt zurück, aber es ist nur noch eine Episode. 1983 bekommt Walesa den Friedensnobelpreis. 1985 übernimmt Michail Gorbatschow in Moskau das Ruder und leitet Reformen von oben ein. Perestroika und Glasnost treffen sich mit der Solidarnosc, die von unten nachwächst und frische Blüten treibt.
Der Rest ist Geschichte, könnte man meinen. Oder sogar ihr Ende?
Im August 2020 ist das boomende Danzig längst so bunt und frei wie ganz Polen, das Wirtschaftswunderland Nummer eins in der EU. Auf dem Langen Markt im Herzen der Altstadt jonglieren Akrobaten. Eine Riesen-Mickey-Mouse verkauft lila Luftballons. Touristen strömen zu Tausenden durch die Gassen und bestaunen die historischen Hansehäuser. Überfüllte Straßencafés reihen sich aneinander. Die Corona-Pandemie hat hier bislang einen milden Verlauf genommen. Der Shutdown des Frühjahrs scheint so weit weg zu sein wie das Grau des Kommunismus.
Der Hass hat Polen fast pandemisch befallen
Ja, man könnte ausgelassen feiern. Wäre da nicht das Wissen um das Virus, aber auch um den Hass, der Polen fast pandemisch befallen hat. Keine zwei Jahre ist es her, dass in Danzig ein Mann auf die Bühne einer Spendengala stürmt und Bürgermeister Pawel Adamowicz ein Jagdmesser in den Leib rammt. „Seine Partei hat mich foltern lassen, deshalb muss er sterben“, brüllt der psychisch labile Täter. Mehr als vierzig Blutkonserven können den Adamowicz nicht retten, der Danzig in zwanzig Amtsjahren in eine weltoffene, blühende Metropole verwandelt hat. Doch den Erfolg gönnen ihm seine Gegner nicht. Politiker der rechtsnationalen PiS überziehen Adamowicz mit ätzender Kritik. Sie nennen ihn einen Verräter am Polentum. Der Attentäter hört jahrelang zu. Bildet sich Folter ein. Und irgendwann sticht er zu.
Doch es hat auch die anderen schon getroffen. Im Herbst 2010 erschießt ein Mann in Lodz in einem PiS-Büro einen Mitarbeiter. Eigentlich habe er Parteichef Jaroslaw Kaczynski töten wollen, gibt er zu Protokoll. Aus Hass auf die Nationalkonservativen. Nach solchen Taten beschwören Politiker in Polen regelmäßig eine „neue Solidarität“. Im Sommer 2020 ruft der liberale Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski sogar eine Bewegung mit dem Namen „Nowa Solidarnosc“ ins Leben. Es braucht sie dringender denn je. Das zeigt der Präsidentschaftswahlkampf im Juli. Trzaskowski fordert Amtsinhaber Andrzej Duda heraus. Es wird eng. Duda zieht alle Register – und lässt der Hetze freien Lauf. Er schließt sich der Aussage an, Homosexuelle seien keine Menschen. Am Ende gewinnt er mit 51 zu 49 Prozent.
Dudas Wahlkampf bleibt nicht ohne Reaktion. Adam Michnik, Solidarnosc-Legende von 1980 und Chefredakteur der liberalen Gazeta Wyborcza, empfiehlt dem Präsidenten den Gang zum Psychiater. Über Kaczynski sagt Michnik: „Er hasst Menschen und demütigt sie.“ Woher kommt bloß die wechselseitige Verachtung in einem Land, in dem vierzig Jahren zuvor Solidarität und Freiheitsliebe triumphierten?
Nobelpreisträger Lech Walesa sagt: Wir brauchen eine neue Idee für die Menschheit
Von Bozena Rybicka ist es nicht weit zu Lech Walesa. Auch der Nobelpreisträger hat ein Büro im Danziger Solidarnosc-Zentrum. Er trägt ein Corona-Visier und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Konstytucja“ –Verfassung, aus Protest gegen den Abbau des Rechtsstaats durch die PiS-Regierung. Aber er will niemandem allein die Schuld zuweisen: „Es gibt überall schwache Politiker.“ Walesa mag auch keine Heldengeschichten aus dem August 1980 erzählen. Vielleicht weil er selbst nicht der Überheld war. Als junger Mann hat der Vater von acht Kindern mit der polnischen Stasi angebandelt. Nun, mit bald 77 Jahren, schaut Walesa lieber nach vorn. „Wir brauchen eine neue Idee für die Menschheit“, sagt er und betont: eine gemeinsame Idee. Solidarnosc.
Aber warum ist Solidarität heute Mangelware, in Polen und darüber hinaus? Walesa weiß um die persönlichen Eitelkeiten der Kaczynskis und Michniks, die einst an seiner Seite kämpften. Bis 1989. Denn kaum hat die Solidarnosc den Totalitarismus am Runden Tisch überwunden, will jeder Sieger sagen, wo es künftig langzugehen hat.
Die Vorstellungen zwischen fundamentalistischen Katholiken, Nationalkonservativen, antiklerikalen Liberalen und linken Nostalgikern gehen nach 1990 weit auseinander. Einigen kann man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: den Beitritt zu Nato und EU. Und auf das westliche Wirtschaftsmodell. Walesa spricht heute von entfesseltem Kapitalismus statt sozialer Marktwirtschaft: „Es ist ein Rattenrennen.“ Jeder gegen jeden. Keine Solidarität, nirgends. Ist das die Erklärung für Spaltung und Hass?
Über dem wieder errichteten Tor der Danziger Leninwerft, das im Kriegsrecht von Panzern niedergewalzt wurde, hängt heute eine Kopie der 21 Forderungen aus dem August 1980. Erst kommt die Freiheit, steht da, dann das Fressen. Gemeinsinn geht vor Gier. So kann man diesen Text lesen, den die Unesco in einen ganz speziellen Kanon aufgenommen hat: Die Danziger Forderungen zählen heute zum „Gedächtnis der Welt“.
Lesen Sie dazu auch das Interview mit Lech Walesa: „Wir brauchen eine gemeinsame Idee für die Menschheit“
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