Eine alte französische Tischuhr mit Holzsockel und Glaskuppel: Das ist einer der ganz wenigen persönlichen Gegenstände, die Reinhard Nemetz in sein neues Büro nach München mitnehmen wird. Man kann sehr genau die präzise Feinmechanik beobachten in dieser Uhr, wie ein Rädchen ins andere greift und das Ergebnis, die Uhrzeit, immer sehr exakt ist. Reinhard Nemetz liebt solche Uhrwerke.
Nemetz ist selbst ein Uhrwerk, zumindest in seinem Beruf als Jurist. Fast 15 Jahre lang hat er die Augsburger Staatsanwaltschaft geleitet. Der große, kräftige Mann hat in dieser Zeit brisante und spektakuläre Verfahren nicht nur geführt, er hat sie angezogen wie ein Magnet. Und er hat sie präzise nach der Strafprozessordnung zu Ende gebracht. So oder so.
Abscheuliche Morde und große Affären
Nemetz und seine Leute haben die CDU-Parteispendenaffäre aufgeklärt, Altkanzler Helmut Kohl als Zeuge vor Gericht zitiert, Politikersohn Max Strauß und Ex-Staatssekretär Ludwig-Holger Pfahls vor Gericht gestellt, erst letzte Woche den ehemaligen CSU-Fraktionschef Georg Schmid angeklagt. Sie haben mehrere abscheuliche Morde an Kindern aufgeklärt und die Täter ihrer Strafe zugeführt. Unter Nemetz’ Regie wurde der Bilderschatz des Schwabinger Kunstsammlers Cornelius Gurlitt beschlagnahmt.
Am Freitag hat Reinhard Nemetz einen neuen Arbeitsplatz eingenommen. Er ist jetzt Präsident des Amtsgerichts München, des größten deutschen Gerichts. Der Spitzenjurist, der fast sein ganzes Berufsleben bei der Augsburger Staatsanwaltschaft verbracht hat, wechselt im Alter von 63 Jahren die Seiten und die Stadt. Der Jäger wird Richter. Auch wenn ihm diese Formulierung nicht gefällt: „Wir alle sind Hüter des Rechts. Staatsanwaltschaft und Gericht sind zwei Seiten derselben Medaille.“
Dabei ist es Nemetz’ Verfolgungseifer, der ihm seinen Ruf als kompromissloser Ermittler eingebracht hat. Vor allem die Beschuldigten selbst haben ihn oft als streng, ja unerbittlich erlebt. Aber in solchen Kategorien denkt Nemetz nicht: „Vor dem Gesetz sind alle gleich zu behandeln. Wir unternehmen immer den Versuch, uns an Gerechtigkeit anzunähern.“ Reinhard Nemetz ist ein Gerechtigkeitsfanatiker mit schier unschlagbarem juristischen Wissen.
Ein Fall hat ihn während seiner Zeit als Leitender Oberstaatsanwalt beschäftigt wie kein anderer. Der Fall Schreiber war immer auch ein Duell zweier ganz unterschiedlicher Männer, zumindest war er in der Öffentlichkeit oft darauf reduziert. Zehn Jahre lang hat Chefankläger Nemetz den Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber gejagt. Mit allen juristischen Mitteln. In zwei Untersuchungsausschüssen musste Nemetz Rede und Antwort stehen. Und der Fall ist auch nach 20 Jahren noch nicht zu Ende. Schreiber hat gegen sein letztes Strafurteil von sechseinhalb Jahren Haft Revision eingelegt. „Das war von der juristischen Komplexität her sicher unser schwierigster Fall“, sagt Nemetz im Rückblick.
„Ich werde nicht für Emotionen bezahlt“
Am 3. August 2009 kam Schreiber nach seiner Auslieferung aus Kanada in Augsburg an. Einen Tag später trafen die erbitterten Widersacher bei der Eröffnung des Haftbefehls erstmals aufeinander. „Ich kann Ihnen sagen, dass es keine Verbrüderungsszenen gegeben hat“, sagte Nemetz damals. Und, gefragt, ob er Befriedigung empfinde: „Ich werde nicht für Emotionen bezahlt.“ Typische Nemetz-Sätze, die sein Bild in der Öffentlichkeit geprägt haben: knurrig und nüchtern. Und die dafür gesorgt haben, dass er als Mensch in Erinnerung bleibt, der polarisiert. Die einen empfinden solche Antworten als erfrischend und können darüber lachen. Andere halten solche Sätze für anmaßend.
Wer Nemetz kennt, weiß, dass in der harten Schale des Berufsjuristen ein feinfühliger Privatmensch steckt. Nicht immer kann man da trennen. Auch Nemetz nicht. Besonders an die Nieren gehen ihm Fälle, in denen Kinder Opfer von Straftaten werden. Die zwölfjährige Vanessa aus Gersthofen, die in ihrem Bett erstochen wurde; Ursula Herrmann, 10, die am Ammersee in einer Kiste vergraben wurde und erstickte; die siebenjährige Natalie aus Epfach, die entführt, missbraucht und bewusstlos in den Lech geworfen wurde. Das waren Fälle, in denen auch Reinhard Nemetz Emotionen zeigte. Er sagt: „Diese Fälle gingen mir sehr nahe. Vor allem der Fall Natalie. Das Mädchen sah meiner Tochter ähnlich.“
Solche Momente erlebt man mit Nemetz nur unter vier Augen. Der 63-Jährige sitzt in seinem Augsburger Büro. Manche Sachen sind schon gepackt, andere sind noch da. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt noch die Uhr in Form einer Computerplatine. Nemetz hat sie selbst angefertigt. Sie ist eine Erinnerung an die Ermittlungen gegen Max Strauß, den Sohn des langjährigen bayerischen Regenten Franz Josef Strauß. Nemetz und seine Leute suchten bei ihm Beweise für Steuerhinterziehung. Der Junior war 1995 vor einer Hausdurchsuchung gewarnt worden. Als die Fahnder kamen, war die Festplatte des Computers gelöscht. Später verschwand sie.
Das Strauß-Verfahren war typisch für Nemetz. Politisch hochbrisant. Aber er zog es durch. Auch wenn der Politikersohn am Ende freigesprochen wurde. Nemetz sagt heute: „In all diesen heiklen Verfahren ist nie politischer Druck auf mich ausgeübt worden. Und ich hätte heute nicht die geringste Scheu, das zu sagen.“ Sein Blick deutet an, Widerspruch wäre an dieser Stelle fehl am Platz. „Es ist eine Unterstellung, dass wir politisch ferngesteuert wären.“ Lobby-Arbeit und Nähe zwischen Politik und Wirtschaft – das ist für Nemetz Fakt. „Aber in meiner Behörde gibt es keine Lobby-Arbeit – von niemandem.“ Die Festplattenuhr wird auch im neuen Büro hängen.
Den FCA-Wimpel kann sich der neue Amtsgerichtspräsident dort ebenfalls vorstellen. Nemetz ist Fußballfan: „Auf nationaler Ebene FC-Augsburg-Fan, auf internationaler FC-Bayern-Fan.“ In seiner Antrittsrede in München sagte Nemetz: „Jupp Heynckes hat mit 67 auch das Triple gewonnen.“ Nemetz wird nicht in eineinhalb Jahren in Pension gehen, sondern voraussichtlich bis 67 arbeiten. In den letzten Berufsjahren darf er sich über eine zwei Stufen höhere Besoldungsgruppe freuen.
Doch in den 15 Jahren als Behördenleiter geriet das Präzisionsuhrwerk auch mal ins Stocken. Das schlimmste Ereignis in seiner Laufbahn beschreibt Nemetz so: „Ich habe durch einen Anruf erfahren, dass einer meiner Staatsanwälte wahrscheinlich eine Straftat begangen hat.“ Tatsächlich wurde der Vorzeigejurist später wegen Geldwäsche, Betrug und Vorteilsannahme zu dreieinviertel Jahren Haft verurteilt. „Das war ein Vertrauensbruch, der schmerzt“, sagt Nemetz.
Nemetz blieb sich selbst treu
Der Fall, der dem Chefermittler aber am meisten Kritik eingebracht hat, ist noch frisch: der Kunstschatz des Cornelius Gurlitt. Nemetz und sein Sachbearbeiter ließen die Bildersammlung des alten Herrn beschlagnahmen, weil es den Verdacht der Steuerhinterziehung und der Raubkunst gab. Die Öffentlichkeit wurde fast zwei Jahre lang nicht informiert. Dann berichtete der Focus darüber – und eine Welle der Empörung schlug über Nemetz herein. Warum werden die Bilder so lange unter Verschluss gehalten? Will sich der deutsche Staat Raubkunst zum zweiten Mal aneignen? Warum wurde nicht informiert?
Nemetz blieb sich selbst treu: In der großen Pressekonferenz zum Fall Gurlitt ließ er die Journalisten lammfromm die Hand heben, bis sie ihre Fragen loswerden konnten. Er sagte: „Ich darf Ihnen versichern, die Bilder sollen nicht in meinem Büro aufgehängt werden.“ Und er bleibt kompromisslos: „Ich habe hier ein Ermittlungsverfahren zu führen.“ Punkt. Basta.
Vielleicht hat Reinhard Nemetz unterschätzt, wie viele Facetten der Fall Gurlitt neben der juristischen hat – kulturgeschichtliche, politische, moralische. Vielleicht war es ihm aber auch in diesem Fall egal. Hat er aus heutiger Sicht Fehler gemacht im Fall Gurlitt? „Die Frage ist doch, ob es aus damaliger Sicht Fehler gab. Das kann ich verneinen“, antwortet Nemetz.
Und wie immer stellte sich der Behördenleiter voll hinter seine Mitarbeiter. Er verlangt Loyalität und vollen Einsatz. Er gibt dafür Vertrauen und Schutz: „Meine Leute brauchen Selbstständigkeit und Rückendeckung“, sagt er. Nicht zuletzt wegen dieser Einstellung werden sie ihn bei der Staatsanwaltschaft vermissen. Zurück bleiben Rätsel. Viele in der Augsburger Justiz zeigen sich etwas ratlos angesichts Nemetz’ Entscheidung, zum Ende seiner Laufbahn wegzugehen. „Ich war völlig überrascht, das hätte ich nie gedacht“, sagt ein langjähriger Weggefährte. Ob die Augsburger Staatsanwaltschaft auch ohne Nemetz so viele spektakuläre Verfahren anziehen wird – man wird sehen.
Nemetz geht „mit Wehmut“
Reinhard Nemetz kann es wurscht sein. Er hat eine große berufliche Herausforderung vor sich. Manche Kollegen fürchten, er unterschätze die neue Aufgabe. Immerhin tausche er eine hierarchisch aufgebaute Staatsanwaltschaft gegen eine Riesenbehörde mit mehr als 200 unabhängigen Richtern, die sich im Allgemeinen ungern dreinreden lassen. Nemetz spricht von einer „tollen neuen Aufgabe“. Er sagt aber auch, er gehe „mit Wehmut“.
Dabei sind Gefühle für ihn eher Privatsache. Die Liebe zu seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern ist verbürgt. Für seine Enkel baut er schon mal eine seiner Eisenbahnen im Wohnzimmer auf und lässt sie herumfahren. Das bereitet Nemetz ebenso viel Freude wie seine Haustiere: ein Graupapagei und mehrere Schildkröten. An Papageien fasziniert ihn die Intelligenz und die Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen. An Schildkröten findet er erstaunlich, wie „ein so passives Tier Jahrmillionen unverändert überleben konnte“. Nemetz liebt Tiere. Er wollte mal Zoodirektor werden.
Jetzt hat er es mit Menschen zu tun. Vielen Menschen, vielen Juristen. Weiß er, was er sich antut? Hinter dem Schreibtisch im Augsburger Büro hängt an jenem Tag noch ein Gemälde des Surrealisten Wolfgang Lettl. Es zeigt einen Mann, der auf der Flucht eine Treppe hinunterstürzt. „Ich habe mich mit aller Gelassenheit für den neuen Job beworben“, sagt Nemetz. Auf der Flucht ist dieser Mann nicht.