Zuletzt ist Joachim Wolbergs kaum noch ohne Schal zu sehen. Selbst bei hochoffiziellen Auftritten, wie kürzlich bei der Rede zur Verleihung des Lovis-Corinth-Preises an den Künstler Daniel Spoerri, verzichtet er nicht auf das Dauer-Accessoire. Den Stoff um den Hals geschlungen, die Hand schützend vor der Brust, als ob er fürchtet, es ginge ihm an den Kragen: Wer Körpersprache deuten mag, für den vermittelt der Regensburger Oberbürgermeister auf den Bildern der jüngsten Monate deutlich, wie es um ihn steht. Zu sehen ist ein bleicher, angespannter Mann unter maximalem Druck.
Der Politiker fällt aus einer imposanten Höhe. Mit mehr als 70 Prozent der Regensburger Wählerstimmen hat er im März 2014 dem CSU-Kandidaten Christian Schlegl eine spektakuläre Niederlage bereitet – nachdem der langjährige OB und Städtetagsvorsitzende Hans Schaidinger aus Altersgründen nicht mehr antreten durfte. Als Wolbergs am Wahlabend mit seiner Frau Anja, mit der er zwei Kinder hat, und einem Tross Anhänger ins Kulturzentrum „Leerer Beutel“ kommt, „kannte der Jubel keine Grenzen“, wie die Mittelbayerische Zeitung damals berichtet.
Im Blitzlichtgewitter, eingekreist von Mikrofonen und Kameras, widmet der neue Oberbürgermeister den Sieg seinem einige Monate zuvor gestorbenen Vater. Von seinen Eltern habe er gelernt, wie man mit Menschen umgehe: „Auf Augenhöhe.“ Diesen Umgang verspricht er auch den Regensburgern. „Wolli“, wie er in der Stadt genannt wird, zeigt sich als Mann aus der Mitte: „Ich bin nichts Besseres als Sie.“ Der Hoffnungsträger der SPD ist geboren und er surft auf einer brausenden Welle der Sympathie.
Von der Lichtgestalt zum Dunkelmann: Die Vorwürfe der Regensburger Staatsanwaltschaft wiegen schwer. Sollte sich der Verdacht bewahrheiten und Joachim Wolbergs wegen Bestechlichkeit rechtskräftig verurteilt werden, stünde er vor den Scherben seiner Existenz. Im Raum stehen ja nicht nur der Verlust von Amt und Arbeitsplatz, sondern auch eine mögliche Pflicht zu finanzieller Wiedergutmachung, der man sich, bei kriminellem Hintergrund, auch nicht ohne Weiteres durch eine Privatinsolvenz entziehen kann. Falls der Verdacht sich nicht erhärten lassen sollte – und bisher ist Joachim Wolbergs als Unschuldiger anzusehen – und der Angeklagte mit weißer Weste aus den Gerichtssaal treten sollte: Die Kraft, sich eine Fortsetzung seiner politischen Karriere vorzustellen, bringen nur noch wenige Genossen auf.
Der Fall Joachim Wolbergs trägt tragische Züge. „In der Tragödie ist das Scheitern des Helden unausweichlich. Die Ursache liegt in der Konstellation und dem Charakter der Figur“, definiert das Lexikon. Bei Joachim Wolbergs, 1971 geboren, deutet die Konstellation anfangs nicht auf eine Karriere als Oberbürgermeister hin. Er profiliert sich in der Schule als Klassen- und Schülersprecher, später sogar als Bezirksschülersprecher für die Gymnasien in der Oberpfalz. Beruflich verläuft sein Weg aber holprig.
Joachim Wolbergs Weg zum Regensburger Oberbürgermeister
Joachim Wolbergs bricht sein Studium ab und sucht die Nähe zur Kultur. Aus einem ehrenamtlichen Engagement entwickelt sich Anfang der 1990er Jahre schließlich ein bezahlter Job. Das Kulturzentrum „Alte Mälzerei“ ist heute eine Erfolgsgeschichte, aber die Weste des Geschäftsführers bekommt Flecken. Wettbewerbsverzerrung, die Beeinflussung einer Zeugin in einem Gerichtsverfahren, Unregelmäßigkeiten in der Führung des Kultur- und Begegnungszentrums, mangelnde Transparenz und fehlende Rechenschaftsberichte werden öffentlich gemacht – und gerügt. Später geht es zum Beispiel auch um die unsaubere Trennung beim Personaleinsatz für den subventionierten Betrieb Alte Mälzerei und den privat betriebenen Kulturspeicher. Die Vorwürfe und Verstöße sind lange her; vor dem aktuellen Hintergrund erinnern sich viele wieder.
Was Joachim Wolbergs, von kaum jemandem bestritten, richtig gut kann: Reden halten, Verbindlichkeit schaffen, Menschen überzeugen. Die Politik bietet ihm die perfekte – möglicherweise auch die einzige tragfähige – berufliche Perspektive. 2008 kommt das aufstrebende Polit-Talent der SPD im Zentrum der Regensburger Macht an. Joachim Wolbergs gelingt, nachdem er CSU-Oberbürgermeister Hans Schaidinger bei der Kommunalwahl gefährlich nahe gekommen ist, der Sprung ins Rathaus. Als dritter Bürgermeister lernt er neben und vom Amtsinhaber: das Tagesgeschäft, die Gesten, den Sprachduktus. Wer typische Wolbergs-Reden hört und die Augen schließt, ist oft verblüfft, wie stark sich „Wolli“ nach Schaidinger anhört. „Ein Performer“, „ein Poser“, so charakterisieren ihn Kritiker.
Auch wie man genüsslich gegen Kontrahenten ätzt, lernt Wolbergs. Etwa nach der Prüfung der Vergabe des Areals der ehemaligen Nibelungenkaserne an den jetzt mit ihm verhafteten Bauträger Volker Tretzel durch die Regierung der Oberpfalz. Als die Prüfer Ende 2014 bescheinigen, die Vergabe sei, mit Ausnahme dreier Randpunkte, im Kern nicht zu beanstanden, höhnt Wolbergs: „Jede Partei hat das Personal, das sie verdient.“ Ein Satz, der in den Ohren von SPD-Politikern heute ungut nachklingen dürfte.
Seine Anhänger kennen auch den anderen Wolbergs: Den Politiker, der abends, ohne von Journalisten und Kameras beobachtet zu werden, im Hospiz bei einem alten Herrn vorbeischaut, ihm beim Anziehen hilft und ihn zur Weihnachtsfeier begleitet. Das Stadtoberhaupt, das mit Empathie und Geduld einem Senior zuhört, der an diesem Tag runden Geburtstag feiert. Den Musikfan, der nach einem langen Tag im Rathaus den Oberbürgermeister ablegt, sich einfach an die Theke in der „Alten Mälzerei“ stellt und einer Band zuhört. Den Kulturfreund, der Geld lockermacht, um die Internationale Kurzfilmwoche oder das städtische Theater auszustatten.
Wolgbergs Arbeit als Sozialbürgermeister
Der Regensburger Sozialpädagoge Reinhard Kellner spricht stellvertretend für eine Reihe ehrenamtlich engagierter Regensburger, wenn er darauf hinweist, „dass Joachim Wolbergs von 2008 bis 2014 ein sehr guter Sozialbürgermeister war“. Regensburgs Willkommenskultur für Flüchtlinge sei untrennbar mit ihm verbunden, auch der Stadtpass für 13500 einkommensschwache Bürger. Streetworker, Obdachlosenbetreuung und Anti-Rassismus-Programme: Regensburg, sagt Kellner, könnte einen Politiker verlieren, „der sensibel auf Notlagen reagierte und der zuhören konnte“.
Als Genossen dem OB bereits vor Monaten nahelegen, aus den Ermittlungen Konsequenzen zu ziehen, sind Wolbergs’ Ohren allerdings taub. Immer wieder und bis zu seiner Festnahme beteuert er: „Der Regensburger Oberbürgermeister ist nicht käuflich.“ Das kann die reine Wahrheit sein – und vor der gerichtlichen Prüfung hat man davon auszugehen. Das kann aber auch eine bewusste Lüge sein. Oder ein Akt der Verdrängung.
„Das Gehirn ist ein fürsorgliches Wesen. Was uns wehtun könnte, versteckt es vor uns“, ist eine Erkenntnis aus der Seelenforschung. Der Regensburger Professor Thomas Loew, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapeut, bestätigt: Wer glaubt, was er sagt, und sei es noch so unvereinbar mit der Realität, wirkt überzeugend. Vielleicht liegt hier ein Grund, warum viele Regensburger die Nachricht von der Verhaftung ihres Oberbürgermeisters mit Worten wie „unfassbar“ und „unglaublich“ kommentieren.
Thomas Loew spricht vor dem Hintergrund des aktuellen Falls – aber nicht zum Fall selbst. In der Konstellation der tragischen Figur, die den Zug auf sich zurollen sieht, aber nicht in der Lage ist, von den Gleisen zu springen und sich in die Wahrheit zu retten, sieht er verschiedene Faktoren vereint. Ein Punkt: In einer Zeit, in der die digitale Gesellschaft mit 140-Zeichen-Nachrichten kommuniziert, erlahme die Aufmerksamkeit nach wenigen Sätzen. Die Grenzen, was real und vorgestellt ist, könnten so leicht verschwimmen.
Ein zweiter Punkt: Die Wahrnehmung von Politikern könne leicht verrutschen. Gerade Menschen, die etwas bewegen möchten, genießen das gute Gefühl, Verantwortung zu tragen, beklatscht zu werden, gewollt zu sein. „Dieses Gefühl liegt in gefährlicher Nähe zu dem Gedanken: Mir kann keiner was.“ Genau deshalb sei auch die Kontrolle in der Politik so wichtig.
Fall Wolbergs - ein Recht auf Scheitern?
Ein weiterer Punkt: In einer schnelllebigen Zeit laufen Kontrollmechanismen den Ereignissen ständig hinterher. Die Illusion hat also möglicherweise lange Zeit, sich festzusetzen, bevor sie unter der Realität einbricht. Auch das System spielt eine Rolle. Der Umgang mit Parteispenden ist kompliziert und undurchsichtig, Korruption ist verbreitet – auch in der Bundesrepublik, die im Ländervergleich keineswegs an der Spitze der sauberen Nationen steht – und die „Gratifikationskrise“, also das Gefühl, nicht ausreichend gewürdigt und bezahlt zu sein, greift um sich.
Zum Agieren des Systems gehört auch das: Der vergleichsweise junge Joachim Wolbergs wird von der Politik lange gehätschelt. Er ist als Stimmen- und Sympathiebringer nützlich, er ist ausgesprochen einsatzfreudig. Im prosperierenden Regensburg mit seinen exzellenten Wirtschaftsdaten hatte offenbar niemand Interesse, Signale wahrzunehmen und Spielverderber zu sein.
„Ich habe ein gewisses Mitgefühl mit ihm“, ist ein Satz, der jetzt in den Gesprächen über Wolbergs häufig fällt. Fußballmanager Uli Hoeneß, der den steilen Fall vom Thron des FC Bayern in die Zelle der Justizvollzugsanstalt Landsberg erlebt hat, sagte diese Woche in einem Interview: „Diese Erfahrung wünsch’ ich keinem.“ Thomas Loew sagt es so: „Menschen haben ein Recht auf Scheitern.“
Der Versuch, zwischen dem Helden und dem jetzt in der JVA Straubing Inhaftierten den Menschen Joachim Wolbergs zu finden, führt auf einen schmalen Grat. Er bewegt sich zwischen Verstehenwollen und dem klaren Blick auf die Fakten. Falls der OB rechtskräftig verurteilt werden sollte, wird er als Täter bestraft werden. Als Täter, der eine Reihe Opfer schwer geschädigt hat. Nicht zuletzt die Stadt Regensburg, die er bei fast jeder Gelegenheit mit Liebeserklärungen behängt.