Ali Tolasoglu redet viel in diesen Tagen. Über das, was einmal sein Restaurant war, über Chemnitz und das ungute Gefühl, das ihn, den Türken, in dieser Stadt begleitet. Ja, über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich der 46-Jährige gerade nicht beklagen. Der sächsische Ministerpräsident war schon da, die Chemnitzer Oberbürgermeisterin sogar zwei Mal. Am Freitag wird der Restaurantbesitzer der Kanzlerin seine Geschichte erzählen.
Er wird von den Männern erzählen, die Mitte Oktober die Scheiben seines Restaurants, des „Mangal“, eingeworfen haben, geschätzte 100 Liter Brandbeschleuniger verschüttet haben und dann Feuer legten. Selbst im Kosmetikladen nebenan fiel bei der Verpuffung der Putz von der Wand. Wochen später steht Tulasoglu in seinem Laden – in Turnschuhen, Arbeitsjacke und mit tiefen Ringen unter den Augen. Die Wände im „Mangal“ sind schwarz, Tische und Stühle verkohlt, Asche liegt zentimeterdick über dem Tresen, den Flaschen, Gläsern. Hinten in der Küche verschimmeln die Lebensmittel. Das Restaurant, 2017 eröffnet, ist ruiniert.
Aber das Geld allein ist es ja nicht. „Seit dem Anschlag habe ich Angst“, sagt Tulasoglu. Eine Angst, die der türkische Kurde aus Anatolien seit 28 Jahren nicht kannte. So lange lebt er in Deutschland, 24 Jahre davon in Chemnitz.
Die Hetze gegen Ausländer ist in Chemnitz auf offene Ohren gestoßen
82 Tage sind vergangen, seit Daniel H. dort am Rande des Stadtfestes mit fünf Stichen getötet wurde, die Täter sollen Asylbewerber sein. 82 Tage, in denen Chemnitz als Stadt rechter Umtriebe gebrandmarkt wurde.
Und es stimmt ja auch. Die Hetze gegen Ausländer ist in Chemnitz auf erstaunlich offene Ohren gestoßen. Hooligan-Gruppierungen riefen zu Spontandemonstrationen auf. Die rechtspopulistische Vereinigung „Pro Chemnitz“, Pegida und AfD mobilisierten mehrere tausend Menschen gegen „Ausländerkriminalität“. Rechtsextreme aus ganz Deutschland reisten an, besorgte Bürger trugen den Hass vor allem gegen Asylbewerber auf die Straße. Es kommt zu Ausschreitungen gegenüber Polizisten und Journalisten, zu Übergriffen auf Ausländer.
Seither will in der drittgrößten Stadt Sachsens mit knapp 250.000 Einwohnern keine Ruhe einkehren. Tulasoglus Restaurant „Mangal“ war bereits das vierte, das attackiert wurde. Es traf die persischen Restaurants „Schmetterling“ und das „Safran“, dessen Besitzer Masoud Hashemi eine Woche im Krankenhaus lag, nachdem Männer ihn in seinem Lokal niedergeschlagen hatten. Uwe Dziuballa stand in der Tür seines jüdischen Lokals „Schalom“, als ihn Steine, Flaschen und ein Stahlrohr trafen. „Hau ab aus Deutschland, du Judensau!“, rief einer.
In Chemnitz steht die Frage im Raum: Was passiert als Nächstes? Der sächsische Staatsschutz ermittelt. Auch wegen Mordversuchs.
Es war der Fall, an dem die Große Koalition fast zerbrochen wäre
Und es ist ja nicht nur das. Chemnitz, die Debatte über das, was im Osten schiefläuft, über „Hetzjagden“, die merkwürdigen Aussagen von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der letztlich seinen Posten räumen musste – das hatte ja auch eine politische Sprengkraft. Eine, an der die Große Koalition fast zerbrochen wäre.
Was also heißt das, wenn Merkel erst jetzt an den Ort des Ausbruchs fährt – 82 Tage danach?
Barbara Ludwig hat dazu eine klare Meinung. Der Besuch der Kanzlerin komme viel zu spät und er werde die sächsische Stadt „noch mal aufwühlen“, hat die Oberbürgermeisterin vor Wochen dem MDR gesagt. Sie hatte Merkel bereits Anfang September eingeladen, als die Trauer noch frisch war und die Stadt aufgewühlt. Die SPD-Frau klingt ernüchtert, wenn sie sagt: „Andere Dinge waren wichtiger.“ Und so einfach sei das ja ohnehin nicht. Weil eine Stippvisite eines Bundespolitikers nichts ändere. Weil der nach wenigen Stunden wieder fahre. Die Probleme vor Ort aber bleiben, sagt Ludwig.
Wie sehr es da hakt, weiß David Begrich. Der Rechtsextremismus-Experte beim Verein „Miteinander“ ist 46 Jahre alt und selbst in der DDR groß geworden. In den 90er Jahren gehörte er zu den Linken, die in Rostock-Lichtenhagen Flagge gegen Nazis zeigten. Die jungen Leute von damals, das sind die heute 40-Jährigen, die in Chemnitz demonstrieren, sagt Begrich.
In der Soziologie spricht man von der Generation Hoyerswerda. „Die damals zwischen 15- und 25-Jährigen haben erlebt, dass man ein politisches System stürzen kann. Und sie haben erfahren, dass schrankenlose rassistische Gewalt nicht sanktioniert wird“, beschreibt Begrich die kollektive politische Erfahrung von Mauerfall und den Ausschreitungen von Hoyerswerda und Lichtenhagen. Das damals Gelernte kommt jetzt wieder zum Tragen. Von der BRD tief enttäuscht, hätten sich viele von der Demokratie abgewandt.
Merkel? "Was will die hier?", sagen manche
Kann man solchen Ansichten wirklich mit einem Kanzlerbesuch beikommen? Bei den überzeugten Neonazis wird das nichts ausrichten, aber Mitläufer könnten das schon als positives Signal werten. Begrich hat durchaus Hoffnung. Die Kanzlerin sei nach Heidenau, Dresden und Görlitz erfahren genug im Umgang mit rechtem Hass, um eine souveräne Antwort zu finden.
Fragt man Menschen auf der Straße, trifft man oftmals auf Gleichgültigkeit oder Ablehnung. „Ist mir egal“, „Was will die hier?“, „Sie hätte mal eher kommen müssen“ – so oder ähnlich fallen die Kommentare aus. Namentlich möchte niemand genannt werden. Man wisse ja nicht, wo das alles landet. Die Skepsis gegenüber Medien ist tief. Diese wird von „Pro Chemnitz“ stetig geschürt.
Die Bewegung um den einstigen sächsischen Republikaner-Anführer Martin Kohlmann hat einen Kern von etwa 1000 Anhängern um sich geschart, die allwöchentlich am Freitag um die Häuser ziehen. Dabei skandieren sie Parolen wie „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, „Wir sind das Volk“, „Widerstand“ oder auch das obligatorische „Merkel muss weg!“.
Doch es gibt auch die anderen. Menschen, die nicht den Rechten und Rassisten folgen. Die sogenannte Mitte. Den Mann etwa, der sagt, dass der Tod von Daniel H. zweckentfremdet wurde und dass er selbst niemals zu so einer gesteuerten Demonstration gehen würde. Die Frau, die sich nicht mehr allein in die Stadt traut und sich stattdessen von ihrem Mann fahren lässt. Und die, die sich darum sorgen, welches Bild das Land inzwischen von Chemnitz hat.
Und das ist ja die Frage, an der man nicht vorbeikommt: Ist der braune Sumpf dort tatsächlich so tief? „Chemnitz ist schon seit der Wiedervereinigung ein Sammelbecken der rechtsextremen Szene, auch wenn die Mehrheit der Bewohner der Stadt keine rechte Gesinnung hat“, sagt der Politikwissenschaftler Hajo Funke aus Berlin. Insgesamt sind in Sachsen Ressentiments gegen Ausländer und Muslime weiter verbreitet als im Rest der Republik. Mehr als jeder Zweite hält Deutschland für überfremdet. Und das sind die Ergebnisse einer Studie, die die Landesregierung noch vor den Ausschreitungen in Chemnitz durchführen ließ.
An der Zahl der Straftaten kann es nicht liegen. Die ist in Chemnitz im Vergleich zu vor der Flüchtlingskrise nicht gestiegen. Doch das Sicherheitsgefühl der Bürger hat sich massiv verschlechtert. 40 Prozent der Einwohner, ergab eine Umfrage im Frühjahr, fühlten sich tagsüber unsicher, nachts sogar 75.
In Chemnitz versuchen sie nun, Antworten zu finden. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagt: „Es muss gelingen, statt Beschimpfungen und Anfeindungen wieder in eine vernünftige Diskussion zu kommen.“ Der CDU-Politiker will nicht zulassen, dass Chemnitz „in Verruf kommt, weil es sich gut verkauft, wenn man ganze Städte an den Pranger stellt und es wieder um den Osten geht“.
"Es wird ein schwieriger Tag für Chemnitz", sagt die Oberbürgermeisterin
Für Oberbürgermeisterin Ludwig gibt es nicht die eine Erklärung für das, was passiert ist. In den Gesprächen mit Bürgern kristallisierten sich vor allem drei Themen heraus: Frust über empfundene Ungerechtigkeiten, ein bedrohtes Sicherheitsgefühl sowie Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik. Sie sagt aber auch: „Was ich nicht in dieser Deutlichkeit gesehen habe, ist, dass die Wut der Chemnitzer so stark ist.“ Und: „Es hat sich in der Stadt ein Graben aufgetan, von dem wir noch nicht wissen, was von dem Erreichten für die Stadt darin verschwindet“, sagt die Oberbürgermeisterin.
Die Ermittlungen zum Tod von Daniel H. laufen noch. Ein Tatverdächtiger, der vermutlich aus Syrien stammt, sitzt in Untersuchungshaft, ein Iraker, der zunächst als Haupttäter erschien, wurde hingegen entlassen. Ein Dritter, ein 22-jähriger Iraker, ist auf der Flucht.
„Pro Chemnitz“ hat auch für den Besuch der Kanzlerin Proteste angekündigt. Nicht am Karl-Marx-Monument, wie sonst jeden Freitag, sondern an der Richard-Hartmann-Halle. Dort besucht die Kanzlerin am Mittag das Jugendtraining des Basketballvereins und will über Werte und das Miteinander sprechen. Am Nachmittag diskutiert sie mit Lesern der FreienPresse. Abonnenten der Regionalzeitung konnten sich dafür bewerben. Durchaus möglich, dass darunter auch Merkel-muss-weg-Rufer sind. Oberbürgermeisterin Ludwig sagt schon jetzt: „Das wird sicher wieder ein schwieriger Tag für Chemnitz.“
Dazwischen spricht die Kanzlerin hinter verschlossenen Türen mit Vertretern der Stadt. Ludwig wird natürlich dabei sein, Ministerpräsident Kretschmer, aber auch Ali Tulasoglu. Der türkische Gastwirt weiß noch nicht, was er ihr sagen will. „Natürlich, dass sie etwas unternehmen soll. Aber es weiß ja keiner, wie man da wieder Ruhe reinbringt.“ Wie es für ihn und seine Familie weitergeht, kann er nicht sagen: Einerseits will er das Lokal wieder aufbauen. „Aber da ist auch die Angst.“ Solange die Brandstifter frei herumlaufen, könnte seine Familie nicht ruhig schlafen. (mit dpa)