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Rassismus in den USA: 50 Jahre nach dem Mord - Martin Luther Kings Traum bleibt

Rassismus in den USA

50 Jahre nach dem Mord - Martin Luther Kings Traum bleibt

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    Ein Gesicht, das Memphis prägt: Bei der jährlichen Parade zum Martin Luther King Day im Januar werden Bilder des Bürgerrechtlers gezeigt.
    Ein Gesicht, das Memphis prägt: Bei der jährlichen Parade zum Martin Luther King Day im Januar werden Bilder des Bürgerrechtlers gezeigt. Foto: Mike Brown, dpa

    Rhonda Bellamy Hodge hat einen langen Weg hinter sich. Zusammen mit ihren Kommilitonen hat sich die 28-jährige Geschichtsstudentin auf die Reise durch die US-Südstaaten gemacht, immer auf den Spuren von Martin Luther King. Sie war in Atlanta, dem Geburtsort des schwarzen Bürgerrechtlers, in Montgomery, von wo aus der Baptistenprediger den Aufstand gegen die Rassentrennung anführte, in Birmingham und Selma. Jetzt ist sie in Memphis angekommen. „Die letzten Meter sind die schwersten“, sagt sie.

    1968 kam Martin Luther King in die Stadt am Mississippi, um den Streik der schwarzen Müllmänner zu unterstützen. Vorausgegangen war ein furchtbarer Unfall, bei dem zwei Arbeiter in einem Müllwagen erdrückt worden waren. Es folgten Streiks, die Männer verlangten mehr Sicherheit, höhere Löhne und vor allem mehr Respekt.

    Nun steht Rhonda Bellamy Hodge in der Ausstellung, starrt gebannt auf die Aufnahmen, die der Projektor auf einen verbeulten Müllwagen wirft. Sie liest die Schlagzeilen, die Kings Rede für den 3. April 1968 ankündigen. „Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhne erhalten“, kritisierte King an diesem Abend. Es sollte seine letzte Rede sein. Einen Tag später war er tot.

    Ein einziger Schuss traf Martin Luther King in Hals und Kinn

    Heute meint man, Vorahnungen zu hören. „Schwierige Tage liegen vor uns“, rief King an jenem Tag den Müllarbeitern in Memphis zu. Und dass ihm das keine Sorge bereite. „Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch.“ Dann sagte er noch: „Ich fürchte niemanden.“

    Wie immer, wenn King in Memphis war, übernachtete er im Lorraine Motel, einer der wenigen Unterkünfte für Farbige in der rassengetrennten Südstaaten-Stadt. Wie gewohnt nahm er Zimmer 306. An jenem 4. April, kurz nach 18 Uhr, stand der Friedensnobelpreisträger auf dem Balkon, scherzte mit Freunden. Es war ein einziger Schuss, der ihn an Hals und Kinn traf. Eine Stunde später war er tot.

    Nun steht Rhonda Bellamy Hodge in Zimmer 306, der letzten Station in dem Motel, das heute ein Bürgerrechtsmuseum ist. Hier will sie dem Mann, der so vielen Afroamerikanern Hoffnung gab, die letzte Ehre erweisen. Die junge Frau kann sich nicht mehr vorstellen, dass Schwarze im Bus vor Jahrzehnten noch aufstehen mussten, wenn sich ein Weißer setzen wollte. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie nicht aus demselben Wasserhahn trinken durften. Trotzdem sagt sie: „Es fühlt sich wie gestern an.“

    Reverend Spencer Stacy sieht das ähnlich. „Der teuflische Geist des Rassismus lebt in unseren Systemen und Strukturen weiter“, klagt der Führer der Bürgerrechts-Koalition MICAH, zu der sich 42 Kirchen, Gewerkschaften und Gruppierungen zusammengeschlossen haben. „Viele der Müllarbeiter in Memphis verdienen noch immer keinen Lohn, von dem sie leben können.“

    Im Wohnzimmer seiner Großmutter hörte Spencer Stacy schon als kleiner Junge Schallplatten mit den Reden von Martin Luther King. Dessen moralische Klarheit motivierte ihn, selbst Prediger zu werden. Heute leitet Stacy die „New Direction“-Megakirche, der mehr als zehntausend Gläubige angehören. Er will den Stab weiterreichen, „den King fallenließ, als er auf dem Balkon des Lorraine Motels zusammensackte“. Und es scheint, als wäre das bitter nötig.

    50 Jahre nach Kings Ermordung ist die Trennung nach Hautfarben in den USA längst Geschichte. Doch die Lebensumstände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weißen Mehrheit noch immer nicht erreicht. „Die ist Amerika“, sagt Professor André Johnson von der Universität Memphis. Die Gründe sind vielfältig. Versteckter Rassismus ist einer, soziale Ungleichheit der zweite. „Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende“, sagt Johnson. Die Arbeitslosenrate schwarzer US-Bürger hat sich in jüngster Zeit derjenigen der Weißen angenähert, liegt aber fast drei Prozentpunkte höher. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weißen Jugendlichen, aber nur 75 Prozent der Afroamerikaner. Auch die Einkommensunterschiede halten sich hartnäckig: In Shelby County, zu dem Memphis gehört, verdienen Farbige nur halb so viel wie Weiße. Die Armutsrate bei Schwarzen insgesamt liegt 2,5 Mal über der weißer Bürger. Gut bezahlte Jobs sind in der Region, die von Logistik-Unternehmen wie Fedex geprägt ist, ohnehin Fehlanzeige.

    Am deutlichsten wird das Problem aber beim Vermögen, das über Generationen weitervererbt wird: In den USA haben weiße Familien im Schnitt einen Grundstock von 919.000 Dollar, schwarze nur 140.000 Dollar. Das ist ein weitaus größerer Unterschied als noch im Jahr 1963. Johnson sagt: „Die Schwarzen starteten in diesem Land als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus.“

    Martin Luther King hatte das erkannt. Er machte sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. 1968, bei seiner letzten Rede in Memphis, ging es ihm längst nicht mehr nur darum, die „Fesseln der Rassentrennung und den Ketten der Diskriminierung“ zu sprengen, und um den Traum, den er in seiner legendären „I have a Dream“-Rede 1963 in Washington formuliert hatte. Vielmehr sprach er von Revolution und von „radikaler Umverteilung der wirtschaftlichen und politischen Macht“.

    Fünf Mal so viele Schwarze wie Weiße wanderten ins Gefängnis

    Der Bürgerrechtler erreichte viel – und doch zu wenig. Noch zu seinen Lebzeiten breiteten sich Ernüchterung, Enttäuschung über die schleppenden Verbesserungen und ein Vertrauensverlust in die Macht der Gewaltlosigkeit aus. Und die Ungleichheit blieb auch nach dem Ende der Rassentrennung, wie Josh Spickler analysiert hat. „Die Masseninhaftierung ist das nächste Kapitel einer jahrhundertealten Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung“, sagt der Anwalt. Seit Ende der 70er Jahre der „Krieg gegen die Drogen“ begann, landeten Schwarze überproportional hinter Gittern. Die Zahl der Häftlinge stieg von landesweit knapp einer halben Million auf 2,3 Millionen Menschen. Dabei wanderten fünf Mal so viele Schwarze ins Gefängnis wie Weiße.

    Spicklers Organisation „Just City“ hilft ehemaligen Gefangenen, wieder auf die Füße zu kommen. Denn mit dem Verbüßen der Strafe ist es nicht vorbei, erklärt er. Solche Urteile führten oft zu lebenslanger Diskriminierung – von der Jobsuche über die Möglichkeit, eine Wohnung oder Kredite zu bekommen, bis hin zu dem Ausschluss von Wahlen.

    Spickler macht die Strafjustiz als Paradebeispiel für strukturellen Rassismus aus. „Erst haben wir die Leute auf Schiffe gesteckt und gegen ihren Willen hierhergebracht, dann haben wir sie nach der Sklaven-Befreiung unterdrückt. Und nach der Abschaffung der Rassentrennung erfanden wir das System des Wegschließens der schwarzen Männer.“

    Hier hielt er seine berühmte „I have a dream“-Rede: Martin Luther King beim Marsch auf Washington 1963.
    Hier hielt er seine berühmte „I have a dream“-Rede: Martin Luther King beim Marsch auf Washington 1963. Foto: afp-Archiv

    Memphis nahm dabei eine Vorreiterrolle ein. „Das ist der Geburtsort dieses Systems der Masseninhaftierung“, sagt auch Professor Johnson. In Tennessee ist ein Streit über das Denkmal des Konföderierten-Generals Nathan Bedford Forrest entbrannt. Lange feierte man ihn als erfolgreichen Geschäftsmann – ohne zu sagen, womit er sein Geld verdiente: Sklavenhandel. Im Dezember wurden seine Denkmäler demontiert. Professor Johnson hat mit seiner Kampagne entscheidenden Anteil. Er sagt: „Diese Denkmäler haben nichts in einer Stadt zu tun, in der wir jemanden feiern, der vor 50 Jahren hier ermordet wurde, weil er für Frieden, Gerechtigkeit und die Rechte der Müllwerker gestritten hatte.“

    Die republikanische Mehrheit im Parlament des Bundesstaates Tennessee sucht bereits nach Wegen, die Denkmäler wieder sichtbar zu machen. Im ehemaligen Lorraine Motel und heutigen Bürgerrechtsmuseum ist man erleichtert, dass Besuchern dieser Anblick im Gedenkjahr Martin Luther Kings erspart bleibt. Natürlich habe es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben, sagt Terri Johnson, die schwarze Direktorin der Gedenkstätte. „Sonst würden Sie mit mir hier nicht sprechen.“ Aber King wäre gewiss entsetzt, wenn er zurückkäme und sehen würde, wie seine Bewegung an Kraft verloren habe. „Er wäre enttäuscht über diese Wohlstandskluft und das Strafrechtssystem mit seiner Gefangenen-Population.“

    50 Jahre danach: Mord an King nicht lückenlos aufgeklärt

    Wenn am Mittwoch in den USA, aber auch in Deutschland und vielen anderen Ländern die Glocken zum Gedenken an Martin Luther King läuten, sieht die Direktorin das als ein Signal. Es gehe um die unvollendeten Aufgaben eines Bürgerrechtlers, der schon damals global dachte und lokal handelte. Wie beim Streik der Müllarbeiter in Memphis.

    Bis heute ist der Mord an King nicht lückenlos aufgeklärt. Zwar fand die Polizei 100 Meter vom Tatort entfernt die mutmaßliche Mordwaffe, zwei Monate später wurde James Earl Ray festgenommen, ein Gewohnheitskrimineller, der zu 99 Jahren Haft verurteilt wurde. Kings Familie glaubte nicht daran, dass Ray als Einzeltäter gehandelt hatte. Und nach wie vor sind rund 600.000 Dokumente, die den Mordfall betreffen, unter Verschluss.

    Die Gewalt ließ sich 1968 nicht aufhalten. Straßenzüge standen in Flammen, im ganzen Land kam es zu Aufständen. Es waren die größten Rassenunruhen in den USA seit Ende des Bürgerkriegs. Die blutige Bilanz: mehr als 40 Tote und über 3000 Verletzte. Auch das war nicht im Sinne des Bürgerrechtlers, der sich als Verfechter des gewaltfreien Widerstands sah. Historiker Charles McKinney sagt, der Friedensnobelpreisträger habe nicht nur auf gewaltfreien Widerstand gesetzt, sondern auch darauf, „seine Bewegung größer werden zu lassen, weil darauf ihre Stärke beruhte“. Deshalb sei er nach Memphis gekommen. „Er wollte nicht nur die Müllwerker, sondern alle Schwarzen zu einem Generalstreik motivieren.“

    Diese Aufgabe fällt nun seinen Erben zu. Heute versucht die „Neue Kampagne der armen Leute“ aus den 95 Millionen Amerikanern, die von Lohntüte zu Lohntüte oder unterhalb der Armutsgrenze leben, eine Koalition zu schmieden – jenseits aller Hautfarben.

    Rhonda Bellamy Hodge steht noch immer in Zimmer 306 des Lorraine Motel. Die Studentin ist am Ziel ihrer Reise angekommen. Jetzt sieht sie klarer als zuvor, wie aktuell Kings unvollendete Mission ist. „Der Marsch geht weiter“, sagt sie. Und der Traum von Martin Luther King, er bleibt. (mit dpa)

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