Herr Professor Lüdecke, in diesen Tagen beginnt iMissbrauchs-Skandal: Papst Franziskus schickt Kontrolleure ins Erzbistum KölnMissbrauchs-Skandalm Erzbistum Köln eine Apostolische Visitation. Was genau versteht man darunter?
Norbert Lüdecke: Die Apostolische Visitation ist ein Instrument, mit dem der Papst seine Aufsicht über die Amtsführung von Bischöfen oder Orden ausübt.
Wie ungewöhnlich ist diese Untersuchung, von der mit Erzbischof Rainer Maria Woelki ein Kardinal betroffen ist – und noch dazu das mitgliederstärkste und gewiss einflussreichste deutsche Bistum?
Lüdecke: In der Tat haben wir es hier nicht mit einem alltäglichen Vorgang zu tun. Bei einem Diözesanbischof, der sorgfältig für sein Amt ausgewählt wurde, geht man in der Regel von einer großen Wahrscheinlichkeit systemkonformen und papstkonformen Verhaltens aus. Im Kirchenrecht gibt es deswegen kaum Vorkehrungen, die eine regelmäßige Kontrolle eines Diözesanbischofs festschreiben. Im Regelfall sind Bischöfe Stützen des Systems.
Woelki selbst sprach von einem „Besuch“, dem er mit großen Erwartungen entgegenblicke. Das klingt einigermaßen harmlos.
Lüdecke: Die Apostolische Visitation als Freundschaftsbesuch zu bezeichnen, ist sicher eine Verharmlosung. Nein, der Papst schickt in seinem Auftrag tätige Bischöfe, die vor Ort genau hinschauen sollen.
Ihr Münsteraner Kollege Thomas Schüller sprach von einem „klaren Misstrauensvotum“ gegenüber Woelki. Teilen Sie diese Ansicht?
Lüdecke: Das teile ich so nicht. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ist mir das zu weit gegriffen. Im Moment wissen wir doch nur, dass die Visitatoren den Auftrag zur Informationsbeschaffung haben.
Laut Woelki haben sie den Auftrag, „sich vor Ort ein umfassendes Bild von der komplexen pastoralen Situation im Erzbistum zu verschaffen und gleichzeitig eventuelle Fehler im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs zu untersuchen“.
Lüdecke: ... wobei man unter „komplex“ auch „katastrophal“ verstehen kann. Ob nach der Visitation Konsequenzen gezogen werden, und wenn ja welche – das liegt ganz an Papst Franziskus. Der Bericht der Visitatoren wird auch nicht öffentlich gemacht.
Man fühlt sich an den früheren Limburger Bischof Tebartz-van Elst erinnert, der wegen eines Bau- und Finanzskandals im Jahr 2013 dem Papst seinen Amtsverzicht anbot. Damals hatte der Vatikan Kardinal Giovanni Lajolo zu einem „brüderlichen Besuch“ entsandt. Daraufhin gab es eine Prüfung durch eine von der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Kommission...
Lüdecke: Die Unterschiede überwiegen hier allerdings. Damals schrieb die vatikanische Bischofskongregation Tebartz-van Elst, man brauche keine Apostolische Visitation – wie er sie selbst mehrfach vom Papst erbeten habe –, denn man habe volles Vertrauen in seine Amtsführung. Gleichwohl verlief der „brüderliche Besuch“ faktisch wohl ähnlich wie eine Apostolische Visitation. Und diese ist zunächst immer Ausdruck eines zusätzlichen Informationsbedarfs und insoweit auch eines gewissen Misstrauens. Aber es geht eben nicht nur um Kardinal Woelki.
Warum handelt der Papst nun anders?
Lüdecke: Franz-Peter Tebartz-van Elst war ein junger und vergleichsweise unbedeutender Bischof. Man könnte es vielleicht so formulieren: Bevor der Papst in so einem Fall zum großen Besteck einer Apostolischen Visitation greift, schickt er einen Vertrauten unter einem anderen Etikett vorbei. Auch die Detailprüfung wurde damals in Deutschland belassen.
Auch das ist jetzt anders.
Lüdecke: Nun sind ja ein Kardinal und zwei Erzbistümer mit zwei Erzbischöfen – nämlich auch der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der Kölner Generalvikar war – sowie zwei Weihbischöfe betroffen. Und es geht um den Umgang mit Missbrauchsfällen. Ich gehe davon aus, dass der Papst durchaus informiert ist, ihm die Informationen aber noch nicht ausreichen.
Erzbischof Heße und Weihbischof Schwaderlapp haben dem Papst im März ihren Amtsverzicht angeboten. Warum braucht Franziskus so lange?
Lüdecke: Nochmals: Aus meiner Sicht will er weitere Informationen. Zudem entscheidet er souverän und lässt sich auch durch noch so großen öffentlichen Druck nicht unter Zeitdruck setzen. Für wie gravierend er die Vorgänge in Köln hält, kann ich noch nicht erkennen.
Einer der beiden Visitatoren, Anders Kardinal Arborelius aus Stockholm, hat zum Erzbistum Köln eine Verbindung über das St. Ansgarius-Werk und das Bonifatiuswerk. Mancher Kritiker sieht darin bereits eine problematische Nähe...
Lüdecke: Die Frage ist doch: Geht es bei der Informationsbeschaffung um eine harte, unparteiische Ermittlung im Dienst der Gerechtigkeit – und am Ende um persönliche Konsequenzen? Das hoffen viele Gläubige, die auf den Papst setzen. Oder trifft Kardinal Woelkis Lesart zu? Er zitierte aus dem Brief der Bischofskongregation an ihn, den wir nicht kennen. Darin heiße es, so Woelki, dass „man mir persönlich und der mir anvertrauten Kirche in einer Zeit großer Bedrängnis und Prüfung beistehen“ möchte. Darauf wiederum hoffen Anhänger jener Erzählung, die in den Vorwürfen gegen Woelki eine Pressekampagne gegen einen verlässlichen Romtreuen und aufrechten Kritiker des Gesprächsprozesses „Synodaler Weg“ vermuten.
...bei dem es um den Zölibat, Klerikalismus oder die Rolle der Frau geht.
Lüdecke: Welche der beiden von mir genannten Möglichkeiten zutrifft, ist im Moment jedenfalls keineswegs ausgemacht. Man wird aus der Entscheidung des Papstes wahrscheinlich Rückschlüsse ziehen können. Und man muss auch das sehen: Es kommen Mitbrüder Woelkis nach Köln, die Deutungshoheit verbleibt auf Bischofsebene, also standesintern.
Wie werden die Visitatoren vorgehen? Es hieß, sie hielten sich in der ersten Junihälfte in Köln auf. Reichen ihnen denn zwei Wochen?
Lüdecke: Ich weiß nicht, wie umfangreich sie vorinformiert sind und ob diese Zeit für tiefer gehende Einblicke genügt. Man darf annehmen, dass ihnen das, was dem Papst an Informationen vorliegt, zugänglich gemacht wurde. Einschließlich des sogenannten Gercke-Gutachtens.
Woelki stellt immer wieder auf dieses Gutachten ab, dem zufolge er sich im Umgang mit Missbrauchsfällen weder straf- noch kirchenrechtlich etwas zuschulden habe kommen lassen. Immer wieder betont er dessen Unabhängigkeit.
Lüdecke: Ich kann nicht erkennen, was an einem Gutachten, dass ein Erzbischof bei einem Strafrechtsanwalt in Auftrag gibt, das er bezahlt und über dessen anschließende Verwendung er verfügen kann – wie wir das beim unter Verschluss gehaltenen ersten Missbrauchsgutachten einer Münchner Kanzlei für das Erzbistum Köln gesehen haben – was daran also „unabhängig“ sein soll. Drei Rechtsexperten aus Mainz und Essen haben das Gercke-Gutachten nun gerade erst auch aus inhaltlichen Gründen als „Gefälligkeitsgutachten“ bezeichnet.
Müsste der katholischen Kirche als Konsequenz die Aufarbeitung aus der Hand genommen werden?
Lüdecke: Eine Organisation, in der etwas routinemäßig derart falsch läuft, kann nicht in eigener Regie aufklären. Die Versuche, die bislang unternommen wurden, sind im Prinzip alle unzureichend. Insofern würde ich auch immer noch nicht von „Aufarbeitung“ sprechen wollen: Wir sind nach wie vor bei der „Aufklärung“. Es ist längst nach zwölf.
Diesen Eindruck haben inzwischen einige – die Forderungen nach einer staatlich eingesetzten „Wahrheitskommission“ werden lauter.
Lüdecke: Wahrscheinlich wird sich so eine Kommission, die es in anderen Ländern gab, bei uns nicht eins zu eins umsetzen lassen. Aber in diese Richtung müsste es gehen – ich bin jedoch skeptisch, ob der politische Wille dazu besteht.
Zurück zu Köln und den Visitatoren. Diese werden sich Akten zeigen lassen und viele Gespräche führen. Haben Sie Sorge, dass die Opferperspektive außer Acht bleiben könnte?
Lüdecke: Die Sorge besteht. Der Kölner Generalvikar Markus Hofmann hat im bistumseigenen Domradio erklärt: Wenn die Visitatoren uns nach Gesprächspartnern fragen, „dann werden wir natürlich antworten“. Das zeigt mir: Der Kontrollierte geht weiterhin selbstbewusst davon aus, dass er das Glaubwürdigkeits-Label vergeben kann. Man muss jetzt genau beobachten, wie die Visitatoren vorgehen: Wen wählen sie zum Gespräch aus? Wie verhalten sie sich im Gespräch? Wollen sie die Beteiligten in die Verschwiegenheitspflicht nehmen? Dies einmal unterstellt: Wer in Kauf nimmt, sich derart knebeln zu lassen, muss sich im Klaren sein, dass er sich zum Komplizen der Intransparenz macht.
Nicht nur Kirchenmitglieder kritisieren Woelki scharf, auch Geistliche. Zuletzt forderten 14 der 15 Stadt- und Kreisdechanten von ihm „persönliche Konsequenzen“. Kann ein Oberhirte wie er überhaupt noch sein Amt ausüben, wenn er keine Glaubwürdigkeit mehr besitzt?
Lüdecke: Der Langmut von Papst und Kurie im Umgang mit Bischöfen ist in der Vergangenheit sehr groß gewesen. Die Eingriffsschwelle war erfahrungsgemäß dann erreicht, wenn Bischöfe bei einem klaren Lehr-Dissens blieben oder Gehorsamsforderungen widerstanden. Oder wenn die Unwuchten in der Amtsführung ein Ausmaß erreichten, das die Grenze von Verwerfung hin zu Zerrüttung zu überschreiten drohte. Unabhängig davon, für wie schwerwiegend man Woelkis Fehler in der Missbrauchsaufarbeitung hält – der Vatikan wird seinen Glaubwürdigkeitsverlust, gerade im Klerus, im Blick haben. Denn das oberste Ziel ist immer eine fruchtbare Seelsorge. Hier hat Woelki ein Problem.
Was aber passiert, wenn ihn Papst Franziskus im Amt belässt?
Lüdecke: Dazu kann ich nur eins sagen: Die Laien im Erzbistum Köln brauchen einen Plan B. Sie schauen vertrauensvoll auf den Papst und die Visitatoren. Doch was ist, wenn es so ausgeht, wie Sie das ansprechen? Genau das müssen sich Gläubige und Kleriker, die sich mit Kritik an Woelki vorgewagt haben, jetzt fragen: Was tun wir, wenn Woelki aus Rom einen Persilschein erhält? Man muss sich ja irgendwie noch in die Augen schauen können.
Norbert Lüdecke, 1959 in Düsseldorf geboren, ist Lehrstuhlinhaber für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Honorarprofessor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Frankfurt. Zuvor war er Diözesanrichter in Limburg und Mainz. 1996 wurde er an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg im Fach Kirchenrecht habilitiert.
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