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Interview: Publizist Evgeny Morozov: "Regierungen werden viele strukturelle Veränderungen vornehmen"

Interview

Publizist Evgeny Morozov: "Regierungen werden viele strukturelle Veränderungen vornehmen"

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    Der belarussische Publizist Evgeny Morozov schreibt über Technologie, Ökonomie und Politik und ist Herausgeber des Newsletters "The Syllabus".
    Der belarussische Publizist Evgeny Morozov schreibt über Technologie, Ökonomie und Politik und ist Herausgeber des Newsletters "The Syllabus". Foto: Boris Roessler, dpa

    Was hat uns Corona über den Kapitalismus gelehrt?

    Evgeny Morozov: Ich glaube nicht, dass wir durch Corona irgendetwas über den Kapitalismus erfahren haben, was wir vorher noch nicht wussten – ein System, das bestimmte Prioritäten setzt, die in erster Linie den Prinzipien der Profitabilität und Kostensenkung folgen. Im Fall von Covid-19 zeigte sich das in den Debatten zur Frage, was als systemrelevante Arbeit zählt und was nicht. Die Allokation und Verteilung von Wert im Kapitalismus trat in den Vordergrund. Die Reichen wurden reicher, ja, und ich kann das auch als moralisch empörend empfinden – aber intellektuell fand ich das wenig erhellend.

    Und wie sehen Sie den Triumph des Plattform-Kapitalismus, den Triumph digitaler Unternehmen in dieser Krise?

    Morozov: Auch hier sehe ich Corona als falsche Fährte – die Krise war weder ein Katalysator noch hat sie irgendetwas Neues zum Vorschein gebracht. Wenn Sie mich aber fragen würden, ob der Kapitalismus bestimmte Probleme mit sich bringt und ob die Technologie bestimmte Antworten auf diese Probleme geben kann, würde ich das natürlich bejahen: Es gibt gewaltige strukturelle Probleme im Kapitalismus.

    Evgeny Morozov ist ein belarussischer Publizist.
    Evgeny Morozov ist ein belarussischer Publizist. Foto: Evgeny Morozov

    Was sind die Hauptprobleme?

    Morozov: Die meisten größeren Missverständnisse und Probleme mit dem Kapitalismus haben damit zu tun, wie er das blockiert und behindert, was ich Entdeckungen nennen würde. Der Kapitalismus erschwert es uns tatsächlich, die Welt zu entdecken, wie sie wirklich ist, was sich zum Beispiel deutlich beim Thema des Klimas zeigt. Man sieht es aber auch daran, wie der Kapitalismus uns an der Einrichtung von Institutionen hindert, mit denen wir gemeinsam Probleme lösen können – nicht Institutionen des Marktes, die die Probleme, die sie selbst geschaffen haben, noch beschleunigen.

    War das schon immer ein Element des Kapitalismus?

    Morozov: Marx sah im Kapitalismus ein befreiendes Element, weil er die herkömmliche Religion zerstört – aber gleichzeitig beschneidet und begrenzt der Kapitalismus diese Befreiung. Hayek hatte Recht damit, dass der Kapitalismus Entdeckungen ermöglicht. Sinn und Zweck einer Marktwirtschaft ist ja nichts anderes, als neue Entdeckungen durch Wettbewerb zu erleichtern – entdeckt werden dabei aber nur Dinge, die den Verkauf von Waren mit Gewinn erleichtern oder den Warenkonsum verbilligen können. Alle anderen Formen von Wissen oder die Fähigkeit, Institutionen zu schaffen, werden schlicht nicht anerkannt. Sie werden gar nicht unbedingt unterdrückt – aber eben auch nicht wertgeschätzt.

    Sie glauben – wie Marx – an die emanzipatorische Kraft der Technologie?

    Morozov: Die Technologie legt den Blick frei auf die Dinge, wie sie wirklich sind, und ermöglicht uns die experimentelle Entdeckung von Neuem, neuen Formen der Gemeinschaftlichkeit, neuen Formen des Handelns. Das würde aber natürlich eine ganz andere Vision von Technologie voraussetzen, jenseits des rein Instrumentellen, die offenlegt, wie die Welt wirklich ist.

    Könnten Sie an einem Beispiel illustrieren, was Sie damit meinen?

    Morozov: Nehmen wir ein städtisches Verkehrssystem – das einem vielleicht extrem effizient vorkommt und von Designern und Architekten nach bestimmten Optimierungskriterien geplant und gebaut wurde. Deren Narrativ ist, dass das System effizient ist. Das Gegennarrativ erzählt aber von den vielen Problemen, denen Menschen mit Behinderungen in dieser öffentlichen Infrastruktur begegnen – und auf einmal sieht man, dass es in Wirklichkeit ein höchst ineffizientes System ist. Der Grund für diese Einsicht ist der Zugang zu einem zusätzlichen Datensatz, von dem man vorher nichts wusste. Der Begriff der Effizienz beschreibt also nichts universell gültiges Gutes und Wahres. Was für die einen effizient ist, ist für die anderen höchst ineffizient.

    In diesem Sinne ist die Technologie ein Mittel der Aufklärung.

    Morozov: Was wir diskutieren sollten, ist die Rolle der Politik in dem Ganzen. Die Dichotomie von Technologie und Politik lehne ich ab. Was in einer bestimmten historischen Epoche als Technologie gilt, ist immer das Ergebnis von politischen Machtkämpfen und Hegemonien. Mich interessieren Fragen wie: Wie können wir uns ernsthaft mit der Frage der Technik auseinandersetzen? Wie verhält sich Technologie zur Frage der Moderne? Was ist eine kapitalistische Moderne? Was wäre eine nicht-kapitalistische Moderne? Und wie verhält sich das wiederum zu Fragen der Autonomie, der Emanzipation und der Technologie?

    Aber wer beschäftigt sich mit solchen Fragen im Bereich der Politik?

    Morozov: Mit Sicherheit nicht die Linken. Die Linke weiß nicht, wie sie sich gegenüber dem Kapitalismus positionieren soll, sie scheint kein alternatives System zum Kapitalismus aufbauen zu wollen. Aber dann findet man sich in der seltsamen Situation wieder, dass sogar sozialistisch denkende Kandidaten sowohl in Großbritannien als auch in den USA der Ansicht sind, dass die beste Lösung darin bestünde, das Schweden der 1970er Jahre nachzubilden. Das Problem ist: Selbst wenn man es schaffen würde, Jeff Bezos und Elon Musk durch eine progressivere Besteuerung loszuwerden, würden die Fragen zur Umweltkrise oder den Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden nicht verschwinden.

    Eine Rückkehr zu Modellen der 1970er Jahre würde die Rückkehr des Staates bedeuten?

    Morozov: Eine Folge von Corona wird ganz sicher sein, dass die Regierungen viele strukturelle Veränderungen vornehmen werden. Sie verfügen über eine Menge Geld, das ihnen zufließt, aber oft über keine starke Bürokratie, mit der sie den Wandel vorantreiben könnten. Für Hilfe wenden sie sich dann meist an große Beratungsfirmen, große Anwaltskanzleien und große Tech-Firmen – Beratung von außerhalb für Veränderungen innerhalb der geschwächten staatlichen Behörden. Das ist das Ergebnis einer sehr strategischen Umformung der Bürokratie, mit Aktionsplan und klaren Richtlinien. Der Staat wird von Beratungsfirmen übernommen, weil es im Wesen des neoliberalen Staates liegt, solche öffentlich-privaten Partnerschaften aufzubauen. Corona beschleunigt diese Entwicklung hin zum Beratungskapitalismus.

    Wir würden Sie abschließend bitten, den folgenden Satz zu vervollständigen: Für mich ist das etwas Persönliches, weil –

    Morozov: – ich fast ein Jahrzehnt versucht habe, genau zu verstehen, was den Sozialismus als Ideologie ausmacht.

    Zur Person: Der belarussische Publizist Evgeny Morozov schreibt über Technologie, Ökonomie und Politik und ist Herausgeber des Newsletters "The Syllabus".

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    The New Institute ist eine Neugründung in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels ist. Von Herbst 2021 an werden hier bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie arbeiten. Gründungsdirektor ist Wilhelm Krull, akademische Direktorin für den Bereich der ökonomischen Transformation ist Maja Göpel. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehmers und Philanthropen Erck Rickmers.

    Alle bisher erschienenen Teile der Serie finden Sie auf unserer Übersichtsseite.

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