Es war dunkel in dem Lastwagen, der in der Morgendämmerung des 26. August 2015 an der ungarisch-serbischen Grenze aufbrach. Dunkel, stickig und heiß. Schon morgens um 5 Uhr, ein paar Minuten nach der Abfahrt, dürften es im Inneren des Frachtraums 60 Grad gewesen sein. Die Atemluft im Laderaum verbrauchte sich rasend schnell. Kein Wunder, wenn den 71 Menschen doch nur knapp 15 Quadratmeter blieben, wenn jeder Einzelne nur so viel Platz hatte, wie eine Fußmatte groß ist.
Tod auf dem letzten Teil der Fluchtroute
Die Flüchtlinge, die den Lkw Richtung Deutschland bestiegen hatten, kamen aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan und dem Iran. Die Fahrt sollte die letzte Etappe einer anstrengenden Reise sein. Doch nun, im Frachtraum des Kühllasters, hatten sie keinen Platz, sich hinzusetzen, konnten nicht einmal ihre warmen Jacken ausziehen. Nach einer Stunde Fahrt, so rekonstruierten es später die Gutachter, verloren die ersten Passagiere das Bewusstsein, vor allem die Kinder. Andere hämmerten in Panik gegen die Wände, schrien, versuchten Notrufe abzusetzen, SMS zu versenden. Doch die Wände aus doppeltem Aluminium isolierten zu stark.
Ivajlo S., der bulgarische Fahrer, hätte wohl ohnehin nicht angehalten. Er hatte seine Befehle. Er wusste, dass er seinen Lohn erst bekommen würde, wenn er die Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich gebracht hat. Das tat er – und machte sich dann aus dem Staub.
Es ist eines dieser grausamen Bilder, das vom Sommer 2015 und der Flüchtlingskrise bleibt. Eines, das man auch heute nur schwer erträgt: Der Lkw mit dem großen Hühnerkopf am Heck, den Grillwürstchen an der Seite und dem ungarischen Schriftzug; die Männer in weißen Schutzanzügen und mit Mundschutz, die den Frachtraum öffnen; die Leichenflüssigkeit, die von der Ladefläche tropft.
Jetzt, fast zwei Jahre später, sind diese Bilder wieder präsent. Am Mittwoch beginnt im ungarischen Kecskemét der Prozess gegen die Schleuser. Vor Gericht stehen insgesamt zehn Männer, Afghanen und Bulgaren mit Roma-Wurzeln. Das elfte Bandenmitglied ist noch auf der Flucht. Die Staatsanwaltschaft legt den Männern 31 illegale Transporte von Migranten zur Last, ebenso die Bildung eines kriminellen Netzwerks. Die vier Hauptangeklagten sind zudem wegen Mordes unter besonders grausamen Umständen angeklagt. Der Bulgare Ivajlo S., damals 25 und ohne Führerschein, der den Kühllaster lenkte, die beiden Bulgaren Todorov B., 39, und Metodi G., 30, die in den Begleitfahrzeugen saßen, und der Afghane Samsoor L., 30, der als Kopf der Bande gilt.
Die Männer schwiegen bislang beharrlich. Doch die Beweislage ist klar – erst recht, seit Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR Ausschnitte aus dem Protokoll einer Telefonüberwachung veröffentlich haben. Es ist die Kommunikation zwischen dem Fahrer des Todeslasters und den anderen Schleusern.
Protokoll einer schrecklichen Tat
Ivajlo S. wartet an jenem Augustmorgen mit seinem Volvo-Kühllaster in einem Waldstück kurz hinter der ungarisch-serbischen Grenze, bei Mórahalom. Die anderen drei der vier Hauptangeklagten halten Ausschau nach Polizeistreifen. Kurz vor Sonnenaufgang werden die 71 Flüchtlinge auf die Ladefläche geschoben. Eigentlich war ein Transport per Auto versprochen, von einem Lastwagen war offenbar nie die Rede, wie Angehörige später berichten. Der Konvoi startet um 4:50 Uhr. Nach 35 Minuten, kurz nach der Tankstelle Balástya, ruft Fahrer Ivajlo S. bei Metodi G. an, der in einem BMW vorausfährt.
Ivajlo S: „Sie haben an der Tankstelle sehr stark geklopft. Scheiße, oh mein Gott!“
Metodi G.: „Scheiße.“
Die Menschen im Kühllaster sind zu dieser Zeit wohl schon in Todesangst. Der Frachtraum hat keine Beleuchtung, keine Fenster, keine Zuluft. Die Türen lassen sich nur von außen öffnen. Kurz nach sechs Uhr telefonieren Metodi G. und Todorov B., der hinter dem Lkw fährt, miteinander.
Metodi G.: „Hör zu, jetzt habe ich mit dem Afghanen gesprochen. Ivo soll den Lkw weiterfahren. Er soll so tun, als ob er sie nicht hört. Ihr werdet nicht auf einer Tankstelle, sondern auf einem Rastplatz halten.“
Todorov B.: „Ja, aber dort gibt es auch Leute, Mensch. Und diese hier kreischen und schreien. Sie leuchten mit einer Lampe, man kann das hinten an der Tür sehen.“
Es ist nicht die erste Fahrt der Schleuser. Bei früheren Transporten aber haben Flüchtlinge die Planen des Lastwagens zerschnitten und sind geflohen. Deswegen kaufte die Bande einen gebrauchten Kühllaster mit einem festen Aufbau. Erst neun Tage zuvor hatte die deutsche Polizei so einen Lkw in Sachsen gestoppt. Darin: 81 Menschen. Überlebt haben sie nur, weil einer von ihnen mit einer Krücke einen Luftschlitz in die Decke gestoßen hat.
Metodi G. sagt am Telefon zu Todorov B.:
„Sie können nicht atmen. Er sagt, dass du auf einem Parkplatz anhalten sollst. Das sagte ich auch Ivo. Auf einem Parkplatz, wo es keine Tankstelle gibt.“
Dann telefoniert er mit Samsoor L., dem Chef der Bande, der den Konvoi anführt. Es geht um die Frage, ob der Fahrer den Flüchtlingen – wie offenbar vorher vereinbart – Wasser geben soll. Samsoor L. sagt:
„Er kann ihnen kein Wasser geben. Sag ihm, er soll nur weiterfahren. Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen.“
Um 6.10 Uhr hält der Laster auf dem Rastplatz bei Kecskemét. Der Fahrer füllt Wasser in den Kühler. Metodi G. telefoniert wieder mit dem Chef. Sie sprechen serbisch:
Metodi G.: „Der Lkw ist auf einem Parkplatz, um Wasser in den Lkw zu füllen und den Leuten Wasser zu geben. Er sagt, dass die Kinder und Frauen weinen.“
Samsoor L.: „Sag ihm, ich ficke alle. Sag – nein. Er soll ihnen sagen, dass er sie lieber sterben lassen würde. Das will ich.“
Metodi G.: „Ich habe ihm schon gesagt, dass er nichts aufmachen darf, sondern nur Wasser füllen und weiterfahren soll. Er muss es nur bis Österreich schaffen.“
Samsoor L.: „Er soll ihnen sagen, dass er die Tür nicht öffnen kann, egal ob sie ihre Notdurft verrichten wollen oder was anderes, auch wenn sie sterben sollten.“
Der Laster steht noch immer auf dem Rastplatz. Metodi G. ruft Ivajlo S., den Fahrer, an und sagt ihm:
„Starte den Motor und fahre los. Ivo, du sollst nicht darauf achten, dass sie klopfen und so weiter. Er ist sehr verärgert und sagte, dass sie alle drin sterben sollen. ,Ich möchte, dass sie alle drin sterben‘, sagte er.(...) Oh mein Gott, hau von diesem Parkplatz ab.“
Um 6.16 Uhr meldet Ivajlo S., dass er jetzt den Parkplatz verlassen hat. Metodi G. sagt am Telefon, dass er auf keinen Fall die Türen öffnen dürfe.
Ivajlo S.: „Ja, aber sie klopfen. Weißt du überhaupt, wie stark sie klopfen? Wie soll ich so über die Grenze kommen?“
Metodi G.: „Ivo, Ivo, sie versuchen, ein Loch in die Decke zu machen. Scheiße, hoffentlich kommen sie so an.“ (...)
Ivajlo S.: „Es riecht wirklich sehr stark.“
Metodi G.: „Ich denke, dass sie keine Luft bekommen, ich bin mir 100 Prozent sicher, es sind weniger das Wasser und der Durst das Problem. Du sollst weiterfahren, das ist das Wichtigste.“
Ivajlo S.: „Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien.“
Als der Lkw um 9.16 Uhr die österreichische Grenze passiert, sind alle Flüchtlinge im Laderaum tot. Qualvoll erstickt. Ivajlo S. nimmt an der Grenze zunächst die Pkw-Spur. Ein Zöllner winkt ihn auf die Fahrbahn für Lkw. Kontrolliert wird er nicht. Um 9.40 Uhr stellt Ivajlo S. den Laster auf der A4 bei Parndorf in einer Notparkbucht ab. Er steigt zu Todorov B. in einen Audi.
Hätten die Menschen gerettet werden können?
Erst 25 Stunden später, am 27. August 2015, fällt der verlassene Kühllaster einem Autobahnpolizisten auf. Den Ermittlern bietet sich ein Bild des Grauens. Die toten Körper der 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder sind übereinandergefallen, die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Geruch ist bestialisch. Vier Personen konnten bis heute nicht identifiziert werden.
Noch am selben Tag werden die Schleuser verhaftet. Die ungarische Polizei kann diesen schnellen Fahndungserfolg vermelden, weil sie die Drahtzieher seit 13 Tagen abgehört hat. Doch hätte womöglich das Leben der 71 Flüchtlinge gerettet werden können, wenn die Mitschnitte rechtzeitig ausgewertet, übersetzt und dokumentiert worden wären? Wann das erfolgt ist, lassen die ungarischen Behörden offen. Es dürften Wochen vergangen sein.
War das Kühllaster-Drama eine vermeidbare Katastrophe? Die ungarischen Behörden sind empört über diese Schlussfolgerung. Kanzleramtsminister János Lázár spricht von einer „Schmutzkampagne“ der deutschen öffentlich-rechtlichen Medien gegen Ungarn. Regierungschef Viktor Orbán erklärt: „Deutsche Politiker, lasst uns in Ruhe, zieht uns nicht in den Wahlkampf rein.“ Er bezieht sich damit auch auf das Verfahren der EU-Kommission gegen Ungarn, Polen und Tschechien, die sich nicht an der Verteilung von Flüchtlingen beteiligen.
Das Geschäft mit den Flüchtlingen geht weiter
Auch wenn die Balkanroute offiziell als geschlossen gilt, kommen nach wie vor jeden Tag Flüchtlinge über Ungarn nach Österreich und Deutschland. Vor wenigen Tagen erst wurden zehn Tote und 17 Schwerverletzte an der rumänisch-ungarischen Grenze in einem Kastenwagen gefunden. Der Fahrer, ein 16-Jähriger, war am Steuer eingeschlafen. Vor drei Wochen entdeckte die österreichische Polizei 111 Flüchtlinge in einem Lastwagen.
Der grausame Fund im Kühllaster, er hat die Flüchtlingsdebatte in Europa verändert. Wenige Tage später schwenkte Kanzlerin Angela Merkel in ihrem Asylkurs um. Und es ging von da an nicht mehr nur um die Flüchtlinge, sondern auch um die Schlepper. Um Menschen wie Ivajlo S., Todorov B., Metodi G. und Samsoor L., die aus der Not der Flüchtlinge Profit schlagen.
Die ungarische Staatsanwaltschaft betont wohl auch deswegen: „Dieses Verfahren ist eine Strafsache von besonderer Bedeutung.“ Die Anklage listet sieben Zeugen, zehn Dolmetscher und 15 Experten auf. Ein Urteil dürfte es erst 2018 geben. Den vier Hauptangeklagten droht im Fall einer Verurteilung lebenslange Haft.
Am Mittag des 27. August 2015, wenige Stunden vor ihrer Festnahme und einen Tag vor dem nächsten Transport, den die Schleuser geplant hatten, telefonierten Samsoor L. und Metodi G. noch einmal.
Samsoor L: „Dieser Lastwagen vom Meister, der Volvo. Man hat gehört, dass die Hälfte der Leute gestorben sind.“ (lacht)
Metodi G.: „Gestorben?“
Samsoor L.: „Die Hälfte der Leute sind gestorben, ja.“
Metodi G.: „Sie sind nicht am Leben?“
Samsoor L.: „Sie sind nicht am Leben, ja.“
Metodi G.: „Ts ts ts.“