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Proteste in Russland: Ein Volk findet seine Stimme gegen Wladimir Putin

Proteste in Russland

Ein Volk findet seine Stimme gegen Wladimir Putin

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    Was diese Frau von Wladimir Putin hält,lässt sich unschwer erkennen. Sie fürchtet, dass er im Amt bleibt, bis er so alt und grau ist wie auf dem Plakat.
    Was diese Frau von Wladimir Putin hält,lässt sich unschwer erkennen. Sie fürchtet, dass er im Amt bleibt, bis er so alt und grau ist wie auf dem Plakat. Foto: afp

    Am Ende klatschen sie gar für die Sondereinheiten und skandieren „Das Volk hat die Macht“. Zehntausende Menschen haben auf Russlands Straßen gegen die von Fälschungsvorwürfen überschattete Parlamentswahl demonstriert. Allein in Moskau versammelten sich bis zu 150.000 Nicht-Einverstandene. Es war die größte Aktion von Regierungsgegnern seit mehr als zehn Jahren und ein friedlicher Protest, der der russischen Staatsführung zeigt: Die Menschen sind zu Bürgern geworden.

    Raissa Krawzowa ist überwältigt. Bei 15 Demonstrationen sei sie in den vergangenen Jahren gewesen, bei Kundgebungen von 100 Menschen, auch mal bei Versammlungen von 5.000 Protestlern. Aber das hier? „Ich bin einfach sprachlos und so glücklich. Das Volk ist endlich aufgewacht, hat verstanden, um was es hier geht“, sagt sie. Die 70-jährige Rentnerin hat sich eine weiße Schleife in das Knopfloch ihrer Jacke gesteckt, an ihren Rücken ein Plakat gebunden. Darauf fordert sie neue Wahlen und unabhängige Medien. Das tun viele hier auf dem „Sumpfplatz“. „Jungs, es ist Zeit zu gehen“, „Wir vertrauen der Mathematik, nicht der Wahlkommission“ oder „Ihr habt mir die Stimme geklaut“, steht auf ihren Transparenten. Immer wieder rufen sie „Putin ist ein Dieb! Nieder mit der Partei der Gauner und Diebe!“.

    Die Demonstranten haben weiße Chrysanthemen in der Hand und manche Tränen in den Augen vor Rührung. „Das alles ist unfassbar, wir sind uns nun bewusst, dass wir keine Masse sind, sondern Bürger“, sagt die 25-jährige Schauspielerin Irina. Quer durch das größte Land der Erde erheben sich die Menschen gegen die Regierung. Sie fühlen sich um ihre Rechte betrogen. Manchmal gehen 500 von ihnen auf die Straße, wie in Wladiwostok im Fernen Osten, manchmal sind es 10.000 wie in St. Petersburg, wo die Polizei zehn Demonstranten festnahm.

    16-jährige Demonstrantin: „Ich will einfach in einem freien Land leben“

    In Moskau bleibt alles friedlich. Von 25.000 Protestlern sprechen die Behörden, die Veranstalter nennen die Zahl 150.000. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Vor allem aber ist eines gewiss: Die Russen wollen Veränderung. Seien es 70-Jährige, die schon in den Neunzigern für das Ende der Sowjetunion mit Nelken auf die zentralen Plätze der Stadt strömten, oder 16-Jährige, die mit dem Internet aufgewachsen sind und den Protest nun aus den sozialen Netzwerken auf die Straße tragen. „Ich will einfach in einem freien Land leben“, sagt die 16-jährige Kristina Kowaltschuk.

    Es haben sich viele politische Bewegungen auf dem „Sumpfplatz“ versammelt, Vertreter der Kommunisten, die Radikal-Linken oder die zur Wahl nicht zugelassene liberale Partei Parnas des früheren Ex-Vizepremiers Boris Nemzow. Doch überwiegend sind es Menschen, die aus ihrer politischen Apathie erwacht sind. „Es wäre schön, wenn sich die Opposition auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten einigt und nicht wie üblich jeder sein eigenes Süppchen kocht“, sagt der 36-jährige Dmitri. Das dürfte schwierig werden. Vorerst hat die Opposition ihrer Regierung zwei Wochen gegeben und eine Resolution mit fünf Punkten verfasst. Darin fordert sie die Staatsmacht auf, alle politischen Gefangenen freizulassen, die Parlamentswahl zu annullieren und den Wahlleiter Wladimir Tschurow – Präsident Dmitri Medwedew hatte ihn nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse als Zauberer bezeichnet – zu entlassen.

    Selbst das russische Staatsfernsehen berichtet ausführlich über die Proteste – zum ersten Mal. „Wir sind nicht hier, um Gewalt zu verbreiten. Wir wollen ehrliche Wahlen“, sagt Ilja Ponomarjow, Abgeordneter von „Gerechtes Russland“. Das Auffälligste an diesem kalten Nachmittag sei die Freundlichkeit der Polizei gewesen. „Als hätten sie extra Beamte mit lieben Gesichtern dafür ausgesucht.“ Als die Menschen nach Hause strömen, verlieren sich die sonst massiv präsenten und martialisch aussehenden Sondereinheiten in der Menge. Die Menschen applaudieren.

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