Hongkong Sie war bisher jedes Mal dabei. Bei den kleineren Veranstaltungen wie der Kundgebung der Studenten gegen Polizeigewalt am vergangenen Freitag, aber auch bei den ganz großen Demonstrationen an den Wochenenden mit über einer Million Teilnehmern. „Niemand kann es sich in diesen Zeiten leisten, am Rand zu stehen und nur zuzuschauen“, sagt Annie Ip, 22. Vergangene Woche hat sie Tränengas abbekommen, das die Polizei wahllos in die Menge geschossen hat – „das brannte wirklich wahnsinnig in den Augen und ging stundenlang gar nicht weg“. Die Regierung nennt die Aktionen „Ausschreitungen“ gegen die öffentliche Ordnung. „Für uns“, sagt Ip, „ist es ein legitimer Protest“.
Die junge Frau gehört zu einer neuen, durch und durch politisierten Generation von Hongkongern. Das Interesse an Bildung und Karriere ist zwar da; Ip studiert Gesundheitsinformatik, „weil man da auf dem Arbeitsmarkt gleich von zwei großen Trends profitiert“. Doch die großen Fragen nach Rechtsstaat und Demokratie stehen heute im Vordergrund. „Ich will vor allem nicht, dass es bei uns in Hongkong so wird wie in China mit dem Überwachungsstaat und den unfairen Gerichtsurteilen.“
China inhaftiert und foltert Regimegegner in Hongkong
Ip wohnt noch bei den Eltern, die langsam ein bisschen Angst um ihre Tochter bekommen. Was, wenn in Hongkong eines Tages wirklich chinesische Regeln gelten? Regimekritiker werden dort verhaftet und gefoltert. Und doch wollen sich die jungen Leute hier nicht mit faulen Kompromissen abspeisen lassen. „Wir machen weiter, bis wir echte Demokratie haben“, verspricht Ip.
Ein Stück weit wird sie von der großen Zahl der Demonstranten geschützt. Alle paar Tage protestieren Zehntausende, regelmäßig versammeln sich sogar mehr als eine Million Menschen, fast das komplette jüngere Fünftel der Stadtbevölkerung. Der Protest in Hongkong hat praktisch die ganze Jugend erfasst. Sogar die konservativen älteren Leute zeigen Solidarität mit der Demokratiebewegung. Auch für die kommenden Wochen erwarten die Organisatoren weiter große Versammlungen. Höhepunkt soll der kommende Montag sein, wenn sich der Tag der Übergabe der früheren britischen Kronkolonie an China zum 22 Mal jährt.
Peking ist zu weit gegangen
Die gigantische Mobilisierung zeigt, dass Peking zu weit gegangen ist mit seinen Versuchen, die Politik der Stadt unter Kontrolle zu bringen. Sie zeigt aber auch, wie blank die Nerven liegen und wie stark es brodelt. Hongkong, der David, scheint sich mit diesen Protesten einerseits erfolgreich gegen den Goliath China zu wehren. Nur ein halbes Prozent der Bewohner des chinesischen Staatsgebiets lebt in der Handelsstadt am Südchinesischen Meer. Trotzdem ist es ihren Bewohnern gelungen, ein Gesetz zu verhindern, das die Machthaber in Peking unbedingt wollten. Es sollte die beliebige Auslieferung von „verdächtigen Personen“ an China erlauben und damit die Zusammenarbeit der Polizeibehörden auf beiden Seiten der Binnengrenze stärken.
Was Hongkong so besonders macht
Die frühere britische Kronkolonie Hongkong gehört seit 22 Jahren als Sonderverwaltungsregion zur Volksrepublik China.
Seit der Rückgabe am 1. Juli 1997 wird die Wirtschafts- und Finanzmetropole nach dem Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ regiert.
Hongkong war 1841 vom Vereinigten Königreich besetzt und durch den Vertrag von Nanking 1843 zur britischen Kronkolonie erklärt worden.
Heute garantiert das Grundgesetz den etwa 7,5 Millionen Hongkongern für 50 Jahre bis 2047 „ein hohes Maß an Autonomie“ und viele Freiheiten.
So ist die Hafenmetropole ein eigenes autonomes Zoll- und Steuergebiet. Auch herrscht weitgehende Presse- und Meinungsfreiheit.
Hongkong hat eine eigene Währung und ist Mitglied internationaler Organisationen. China übernimmt die Außen- und Verteidigungspolitik.
Allerdings erlaubt die kommunistische Führung in Peking immer noch keine freien Wahlen, obwohl diese in Aussicht gestellt worden waren.
Schon 2014 gingen tausende Hongkonger für mehr Demokratie auf die Straße.
Die „Regenschirm-Revolte“, wie die Bewegung wegen der Regenschirme genannt wurde, mit denen sich Demonstranten gegen Sonne und Regen sowie gegen das Pfefferspray der Polizei schützten, legte wochenlang die Metropole lahm. (dpa)
Das Gesetz liegt nun auf Eis, doch die Position der Hongkonger ist weiter kippelig. Und tief drinnen hat der scheinbar unerschrockene David richtige Angst, wenn er sich Goliath entgegenstellt. China – das ist das erfolgreichste autoritäre Regime in der Geschichte. In allen Schichten der Gesellschaft stellen sich die Bewohner dieselbe Frage: Was, wenn Peking hier wirklich die Macht übernimmt?
Hongkong und China haben sich voneinander entfernt
Das große China und das kleine Hongkong haben sich in mehr als 170 Jahren auseinandergelebt. Die Lage war im 20. Jahrhundert etwas paradox: Hongkong war zwar eine britische Kolonie und damit formal unfreier als China. Doch die Briten führten Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit ein. Das Lebensgefühl hier war daher demokratisch, während in China bis heute die kommunistische Diktatur herrscht.
Nach der Rückgabe an China sollte dieser Zustand erhalten bleiben. „Ein Land, zwei Systeme“, hieß das Leitwort, unter dem der Spagat funktionieren sollte. Die Stadt hat ein eigenes Grundgesetz, das Freiheit und Kapitalismus für 50 Jahre ab 1997 zusichert. Doch Chinas derzeitiger starker Mann, Xi Jinping, ist ein kontrollsüchtiger Machtmensch. Seiner Lesart nach hat China das Grundgesetz den Hongkongern großzügig gewährt – und kann es entsprechend auslegen. Mit dem Abschiebungsgesetz will er schon vor Ablauf der 50 Jahre mehr Einfluss auf die Angelegenheiten der Stadt ausüben.
Ein Foscher sorgt sich vor der Abschiebung
Der Gesetzentwurf trifft die Unabhängigkeit Hongkongs im Mark. „Er durchlöchert die Schutzwand, die bisher die Rechtssysteme von China und Hongkong voneinander getrennt hat“, sagt Willy Lam, Politologe an der Chinese University of Hong Kong. „Auch wir Akademiker müssen uns jetzt plötzlich Sorgen machen.“ Seine Analysen der kommunistischen Partei und ihrer Motive erfüllen auf der anderen Seite der Grenze den Straftatbestand der „Destabilisierung der Nation“. Grund genug für eine Abschiebung? Vielleicht. „Jeder in Hongkong würde in einem Zustand der Unsicherheit leben.“ Unter dem „Damoklesschwert der Verfolgung durch Peking“ werde vorauseilender Gehorsam einsetzen.
Ein Student ist der Wortführer der Demonstranten
Joshua Wong, 22, gibt sich jedoch zuversichtlich, dass es zumindest in naher Zukunft nicht so weit kommt. „Wir geben unsere Seele nicht auf“, verspricht der Wortführer der Demonstranten. Vor fünf Jahren, als die Demokratiebewegung richtig begann, war er noch Schüler, heute ist er Student – und frisch aus dem Gefängnis entlassen. Die Justiz hat ihn wegen der Straßenblockaden für einen Monat in den Knast gesteckt.
Wie gefährlich könnte das neue Auslieferungsgesetz für ihn persönlich als prominenteste Figur des Widerstands werden? „Egal, ob das Gesetz kommt oder nicht, Leute wie ich können sich nicht sicher fühlen“, sagt Wong. „Denken Sie nur an die Fälle, in denen Regimekritiker einfach aus Hongkong entführt wurden.“ Die Machthaber in Peking wollen Hongkong lieber früher als später unter ihre Kontrolle bringen. „Peking gewinnt zwar an Einfluss, doch das führt nur zu einer stärkeren Gegenreaktion.“
Die Demonstranten fürchten Gesichtserkennung der Kameras
Annie Ip, die Gesundheitsinformatik-Studentin, ist dafür ein gutes Beispiel. Schon als 17-Jährige hat sie an den Protesten für ein demokratisches Wahlrecht teilgenommen, den sogenannten Regenschirm-Demonstrationen. Die zierliche junge Frau ist daher heute eine erfahrene Demonstrantin, und mit ihrem schwarzen T-Shirt, der Atemmaske und den Wasserflaschen in den Außentaschen des Rucksacks sofort als Teilnehmerin an den Protesten zu erkennen. Das Schwarz steht für Trauer um den rechtsstaatlichen Sonderstatus der Stadt. Die Masken sollen vor der Gesichtserkennung durch den Einsatz von Polizeikameras schützen. „Je mehr Einfluss Peking in Hongkong gewinnt, desto wütender werden wir“, sagt Ip.
Deshalb engagiert sich Bonnie Leung so intensiv gegen das Gesetz. Die 32-Jährige gehört als Vizepräsidentin der Bürgerfront für Menschenrechte zu den zentralen Figuren hinter den Protesten. „Wir haben in den vergangenen fünf Jahren viel über die Mobilisierung der Bürger gelernt“, erklärt sie die gewaltige Mobilisierungsfähigkeit der Bürgergruppe. „Der Widerstand gegen Peking hat heute eine viel breitere Basis als vor fünf Jahren.“
Auch Geschäftsleute stellen sich gegen das Gesetz
Auch die Geschäftsleute, in der Finanzmetropole eine starke Bevölkerungsgruppe, sorgen sich um ihre persönliche Sicherheit und um den Rechtsstaat. „Wir fühlen uns von einem viel breiteren Konsens getragen“, sagt Leung. Während sie sonst sehr ernst spricht, lächelt sie bei diesen Worten. Die Proteste von 2014 hatten noch den Schönheitsfehler, dass die Business-Welt allenfalls halbherzig dabei war. Schließlich machen die Unternehmen ihre Geschäfte hauptsächlich in und mit China. Demokratie ist für die Geschäftsleute ein abstrakter Wert, doch die Möglichkeit einer Auslieferung an China bedeutet eine reale Gefahr. Handels- und Anwaltskammern sprechen sich klar gegen das Gesetz aus.
Am meisten Gefahr droht jedoch Leuten wie Leung und Wong. Wer sich sichtbar engagiere, gerate ins Blickfeld des Sicherheitsapparates. „Es ist ein absoluter Albtraum-Gedanke, an das totalitäre Regime jenseits der Grenze ausgeliefert zu werden“, sagt Leung. Die Stadt werde sich wehren, bis das umstrittene Gesetz endgültig vom Tisch ist. Solange werde sie nicht ruhen. Wichtig sei bloß, dass die Proteste so geordnet und friedlich bleiben wie bisher. „Das setzt uns ins Recht“, sagt Leung.
Ein Oberstufenschüler wartet auf seine Gerichtsverhandlung
Tony Chung würde hier widersprechen. Der 18-jährige Oberstufenschüler sieht aus wie 16 und ist ein Strich in der Landschaft, aber er gehört zu den hart gesottenen Frontleuten der Proteste. „Wir könnten durchaus noch etwas knackiger werden, um auf unser Anliegen aufmerksam zu machen“, sagt er. Er hat diese Haltung auch bereits in die Tat umgesetzt, als er einem Unterstützer Pekings die Nationalfahne weggerissen und den Flaggenstock zerbrochen hat. Die Aktion war in den sozialen Medien gelandet und hat ihm jede Menge Ärger mit der Polizei eingehandelt. Derzeit ist er auf Kaution frei und wartet auf seine Gerichtsverhandlung.
Obwohl Chung ein wenig dem Joshua Wong von vor fünf Jahren ähnelt, steht er doch für eine aggressivere, für Hongkong neue Protestkultur. Trotz des geringen Altersabstands gilt Wong als besonnener und gemäßigter Veteran der Proteste, während sich Teenager wie Chung ungeduldig zeigen. Dennoch besitzt Wong bei der Hongkonger Jugend eine enorme Glaubwürdigkeit. Die einmonatige Haftstrafe als Anführer des Protests, der 2014 die Innenstadt lahmgelegt hat, machte ihn zum Märtyrer und zementierte seine Führungsrolle.
Die Demonstranten werden von "Kriegern" kommandiert
Doch Wong wirkt derzeit eher aus dem Hintergrund. Die Proteste auf der Straße sollen diesmal bewusst ohne auffällige Führungsfiguren auskommen. Stattdessen übernehmen andere mutige junge Frauen und Männer die Koordination auf der Straße. Sie tragen schwarze Werkzeugwesten, sind mit Gasmasken und Funkgeräten ausgerüstet und verstecken sich hinter Tüchern, die sie ums Gesicht binden. Wenn die Polizei Tränengas abfeuert und mit Gummigeschossen in die Menge schießt, dann dirigieren sie wie Offiziere ihre Truppen: Rückzug, Ausweichen, Verletzte wegtragen, Sammeln und Neugruppieren. Diese „Krieger“, wie sie in der Bewegung heißen, sind die Befehlshaber der Bodentruppen und damit die direkten Gegenspieler der Polizei.
Seit der Regenschirm-Bewegung mit Besetzung der Innenstadt vor fünf Jahren sind die Proteste laufend professioneller geworden. Sie sind langfristig angelegt – zumal auch das Ziel echter demokratischer Wahlen noch immer steht. „Wir kämpfen auf absehbare Zeit weiter“, sagt Wong. Das kleine Hongkong soll ein Leuchtturm der Demokratie im riesigen China bleiben. Und dieser Kampf erfordert viel Mut.
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