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Pressestimmen: Fall Sarrazin - "SPD hat klein beigegeben"

Pressestimmen

Fall Sarrazin - "SPD hat klein beigegeben"

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    Der ehemalige Berliner Finanzsenator  und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) geht durch die leere Empfangshalle des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof (Archivbild vom 12.02.2009). dpa
    Der ehemalige Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) geht durch die leere Empfangshalle des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof (Archivbild vom 12.02.2009). dpa

    Die Pressestimmen zum Fall Sarrazin und der SPD fallen gespalten aus. Ein Überblick:

    "Lübecker Nachrichten": "Gabriel und Nahles haben nachgeholt, was sie schon im Herbst hätten tun sollen. Sie haben das Für und Wider eines langen Ausschlussverfahrens abgewogen. Mit einem ernüchternden Ergebnis: Die Erfolgsaussichten dürften höchst vage sein, denn die Hürden liegen zu Recht hoch, Mitglieder mit unliebsamen Ansichten loszuwerden. Sarrazin wäre durch alle Instanzen gegangen - mitten im Berliner Abgeordnetenhaus-Wahlkampf und mit der Sympathie vieler SPD-Anhänger im Rücken, die seine Thesen nicht für anstößig, sondern für mutig halten. Diese Bühne wollte die SPD-Spitze dem die Partei spaltenden Ex-Senator nicht bauen. Also hat sie klein beigegeben. Das ist nachvollziehbar. Aber lachhaft ist es, das als einen Rückzieher Sarrazins zu verkaufen."

    "Berliner Zeitung": "Die SPD erlebt zurzeit ein kommunikatives Debakel. Die Verantwortung dafür trägt vor allem Sigmar Gabriel. Wie bei kaum einem anderen Thema hat sich der Parteichef persönlich in der Debatte exponiert. Niemals dürfe die SPD opportunistisch sein und einen Mann wie Sarrazin in ihren Reihen dulden, forderte er im Januar. Auch damals hätte er nach den Erfahrungen mit früheren Abweichlern wissen können, dass vor einem Parteiausschluss hohe rechtliche Hürden liegen und er möglicherweise nicht zu erreichen ist. Dass Gabriel jetzt volle fünf Tage brauchte, um sich zu dem Kompromiss mit Sarrazin zu äußern, macht sein Verhalten nicht überzeugender."

    "Leipziger Volkszeitung": "Nachdem zunächst die sozialdemokratischen Sarrazin-Fans Sturm gegen die Parteispitze gelaufen waren, weil sie die Meinungsfreiheit und Bürgernähe in der SPD gefährdet sahen, rebellieren nun die Parteilinken, die sich für Sarrazin hingebungsvoll fremd schämen. Doch der Attackierte kommt als politischer Bumerang zurück. Nun droht der schwächelnden Traditionspartei eine neue Austrittsswelle. In dieser Situation taucht der wankelmütige SPD-Chef ab und leistet seiner hilflos rumrudernden Generalsekretärin Andrea Nahles nur hühnerbrüstigen Fern-Beistand. Führung sieht anders aus...Genau hier liegt das Problem der Sozialdemokratie: Keiner weiß, wo und wofür sie steht. Oft ist sie dagegen und dafür zugleich, dümpelt orientierungslos dahin."

    "Pforzheimer Zeitung": "Gern wird das Fehlurteil gepflegt, Sarrazins Meinungsfreiheit sollte beschnitten werden. Darum geht es in der SPD nicht. Dort quält viele Genossen die Frage, wie weit darf sich jemand von den Grundwerten Humanität und Solidarität entfernen, um wohlfeil provozierend Honorare einzustreichen? Nachdem österlichen Einknicken sowohl von Sarrazin als auch der SPD, stehen beide als Verlierer da. Es bleibt ein veritabler Scherbenhaufen zurück. All jene, die darauf nun hämisch tanzen, mögen sich zurufen lassen: So schafft man die Demokratie ab."

    "tageszeitung": "Die SPD nimmt es hin. Mehr noch: Sie willigt ein, sich auch  künftig von Sarrazin am Ring durch die Manege ziehen zu lassen,  eines durchschaubaren Beweggrundes wegen: Führende Sozialdemokraten  fürchten Verluste bei anstehenden Wahlen, etwa in der Hauptstadt.  Die SPD hat also um eines taktischen Vorteils willen ihr  Selbstverständnis über Bord geworfen. Dies hat sich noch selten  ausgezahlt, und gerade im weltoffenen, viele Kulturen vereinenden  Berlin kommt provinzielle Verklemmtheit schlecht an. Für Migranten  und liberale Bürger der Mitte hat sich die Partei unwählbar  gemacht. Von Sarrazins Verbleib in der SPD profitiert nur einer: er  selbst."

    "Aachener Zeitung": "Die forsche Generalsekretärin, die Hauptanklägerin im Verfahren gegen Sarrazin, glaubt an den Osterhasen. Sarrazin habe seine sozialdarwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich von diskriminierenden Äußerungen distanziert. So hörte sich die Harmoniesoße an. Nein: Das hat er nicht getan! Die SPD hat klein beigegeben, ein SPD-Leerstück."

    "Neues Deutschland": "Das alles ist nur ein großes Missverständnis. Dass ein Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin angestrengt wurde. Und dass sich nun so viele Mitglieder gegen seine Beendigung auflehnen, auch. Das Missverständnis der Mitglieder besteht darin, dass sie den strafenden Worten etwa Sigmar Gabriels über Sarrazin eine Botschaft entnommen hatten, ein Bekenntnis. Dass sie einen Augenblick geglaubt hatten, die SPD folge jetzt, in der Opposition, anderen Regeln, als sie in der Regierung zu folgen pflegt. In elf Regierungsjahren hat sie die Ausländergesetzgebung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz EU-Europa kräftig verschärft, in uneingeschränkter Solidarität mit dem angeblich Guten Krieg gegen das angeblich Böse geführt. Zu alldem wurde regelmäßig die Fratze des hässlichen Islamisten bemüht und dafür von den Muslimen regelmäßig auch noch eine Entschuldigung verlangt. Die SPD hat den uralten Chor der Konservativen, der das deutsche Leitbild besang, mit frischem Atem versorgt und die Hymnen von der Überlegenheit des Abendlandes mit neuen Strophen bereichert. Sie hat Otto Schily nicht mit einem Parteiausschlussverfahren behelligt. Und erst recht nicht Gerhard Schröder, trotz der Anstiftung zu zwei Kriegen und Abkehr vom Prinzip der Solidarität durch die Hartz-Gesetze und seine Verstümmelung in Afghanistan. Warum sollte jemand wegen seiner rassistischen Ansichten über Kopftuchmädchen und Gemüsehändler aus der SPD fliegen? Das konnte nur ein Missverständnis sein."

    "Ostsee-Zeitung": "Sarrazin habe seine umstrittenen Äußerungen über Intelligenz und Gebärverhalten von muslimischen Zuwanderern klargestellt, relativiert und sich auch distanziert, behauptet die Parteisekretärin. Tatsächlich nimmt der in Ungnade gefallene Sarrazin nichts zurück. Er bedauert lediglich, dass Andere ihn missverstanden haben, dass er sein eigentliches Anliegen, das Aufzeigen schwerwiegender Defizite bei der Integration, vielleicht nicht deutlich genug gemacht habe. Distanzieren klingt anders. Verständlich, dass sich die Sarrazin-Gegner in der SPD verschaukelt fühlen. Vollmundig hatte Parteichef Sigmar Gabriel im vergangenen Jahr erklärt, einen Möchtegern-Darwin wie den bekennenden Provokateur Sarrazin könne die SPD in ihren Reihen nicht dulden. Jetzt wurde nicht einmal der Versuch gemacht, sich von ihm zu trennen."

    "Kölner Stadt-Anzeiger": "Erst hat SPD-Chef Sigmar Gabriel die Beliebtheit des Provokateurs im Volk unterschätzt, nun scheint ihn die Wut in den eigenen Reihen über denselben zu überraschen. Instinktsichere Politik sieht anders aus, Grundsatztreue erst recht. Der klügste Kommentar zum Thema stammt von Sergey Lagodinsky: 'Ich kann es in einer Partei mit einem Sarrazin aushalten, aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will.' Mit welchen Argumenten will Sigmar Gabriel den Gründer des 'Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten' überzeugen, seinen SPD-Austritt zu revidieren?"

    "Münchner Merkur": "Der Ärger des linken SPD-Flügels über den ausgebliebenen Rauswurf Thilo Sarrazins aus der sozialdemokratischen Familie war erwartbar. Interessant allenfalls, dass der Aufstand der selbsternannten Anständigen bislang nur von Randfiguren getragen wird. Vom baden-württembergischen Wahlverlierer Nils Schmid zum Beispiel, dessen historisches Verdienst darin liegt gezeigt zu haben, wie sich die SPD als Volkspartei erfolgreich abschafft und zum Juniorpartner der Grünen degradiert. Über Schmids Kritik kann SPD-Chef Gabriel locker hinweggehen. Mit Thilo Sarrazin darf die SPD annehmen, endlich wieder dort zu sein, wo Merkels CDU gerade nicht ist: mitten unter ihren Wählern. In Berlin, wo Klaus Wowereit gegen Renate Künast um die SPD-Vorherrschaft im rot-grünen Lager ringt, kann das entscheidend sein." dpa/afp

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