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Porträt: Vom Stuhlflechter zum Bundesrichter

Porträt

Vom Stuhlflechter zum Bundesrichter

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    Hans-Eugen Schulze hat eine beeindruckende Karriere gemacht.
    Hans-Eugen Schulze hat eine beeindruckende Karriere gemacht. Foto: dpa

    Mit 17 steckte sein Leben in der Sackgasse. Hans-Eugen Schulze war seit frühester Kindheit blind und seine vorgezeichnete Laufbahn an ihrem Ende: Er hatte seine Ausbildung an der Blindenschule Soest beendet und sollte von nun an für den Rest seines Lebens Stühle und Matten flechten, telefonieren oder stenografieren. Viel weiter konnte man als Blinder im Jahr 1939 nicht kommen.

    Ein Vierteljahrhundert später war Schulze wieder an einem Punkt, an dem es nicht mehr weiterging – aber diesmal, weil man tatsächlich nicht weiterkommen kann: 1963 wurde er Richter am höchsten deutschen Zivilgericht, dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Heute nun wird Schulze mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. An seinem neunzigsten Geburtstag.

    Bei seinem ersten Kontakt mit der Justiz war Schulze noch das kleinste Rädchen am Gericht. Die Richter am Landgericht Dortmund diktierten ihm Strafurteile, Schulze brachte sie zu Papier. „Dann hab ich mir eingebildet, ich müsste das auch können, wenn ich studiert hätte.“ Dieser Gedanke war der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere.

    Er schmiss den Job, holte sein Abitur nach und schrieb sich in Marburg für Jura ein. Schulze kämpfte sich durchs Studium, tippte jede Vorlesung auf seiner Stenografiermaschine mit und arbeitete sie zu Hause aus. Sein Ehrgeiz lohnte sich, er bestand beide Examina mit der Note Eins. Er promovierte und wurde Richter am Landgericht Bochum. Im Gerichtsalltag stand Schulze eine Vorleserin zur Seite, die ihm die Akten auf Kassetten sprach. So habe er seinen Beruf ganz normal ausführen können, zumindest fast.

    In einem Prozess berichtete eine Frau davon, wie sie in einem Schwimmbad betatscht worden sei, und ahmte die Handbewegungen nach. „Fassen sie mich mal so an, wie der sie angefasst hat“, sagte der blinde Richter – und konnte sich so einen lebendigen Eindruck machen. Bei der Verhandlung um einen Nachbarschaftsstreit fertigte er sich seine eigene Skizze der Grundstücke an, indem er zwischen Nagelköpfen Fäden spannte. Die Berufung zum Bundesrichter 1963 war eine Sensation. Schulze war der erste blinde Richter am Bundesgerichtshof, und das im Alter von 40 Jahren. „Ich war glücklich, irgendwie demütig und dankbar. Aber ich habe hart dafür gekämpft.“ Bis heute hat es nur einen weiteren blinden Richter am BGH gegeben.

    Wenn der jetzt 90-Jährige über sein fehlendes Augenlicht spricht, bekommt man eine Idee davon, wie ihm dieser Aufstieg gelingen konnte. Das Foto auf dem Tisch, das ihn mit seiner verstorbenen Frau zeigt, hat er noch nie gesehen. Nicht einmal Schatten kann er erkennen. Doch das hat Schulze nie wütend gemacht. Es hat ihn nicht daran gehindert, sein Leben in die Hand zu nehmen. Im Gegenteil. „Ich habe gar keinen Grund, zu bedauern, dass ich nicht sehen kann. Für mich hat es seinen guten Sinn gehabt.“ Der „gute Sinn“, das sei zum Beispiel, dass er mit Augenlicht nie so vielen Blinden hätte helfen können. Mit seiner Frau gründete er 1997 eine Stiftung für blinde und sehbehinderte Mädchen und Frauen in Afrika und Asien, noch heute ist er unter anderem bei der Christoffel-Blindenmission aktiv.

    Hans-Eugen Schulze ist zufrieden, auch wenn er seinem Gesprächspartner in die Augen schaut und dabei doch nichts sieht, auch wenn eine Computerstimme ihm die Uhrzeit vorlesen muss. „Ich habe mein Leben bestmöglich gelebt“, sagt er und lacht. „Das ist alles gut so.“ dpa

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