Samstag, 22.45 Uhr, Olympiastadion in London. 100-m-Finale der Männer. Ein Zehn-Sekunden-Thriller. Vielleicht auch ein Drama. Es ist Usain Bolts letztes Einzelrennen. Der Jamaikaner ist der schnellste Mensch der Welt. Weltrekordhalter über 100 m (9,58 Sek.) und 200 m (19,19 Sek.). Höchstgeschwindigkeit: 44,74 km/h. Bolt hat acht olympische Goldmedaillen gewonnen und elf WM-Titel. Er ist ein Phänomen, das eigentlich zu groß und zu schmal ist für den Sprint.
Seine Konkurrenten sind quadratische Muskelpakete, die sich aus den Startblöcken katapultieren, während Bolt Mühe hat, die Beine unter den Oberkörper zu bringen. Nach 30 Metern hat er seine 1,96 m sortiert. Nach 60 Metern schiebt er sich an der Konkurrenz vorbei. Dann schaut er nach links und rechts, wo niemand zu sehen ist. Am Ende austänzeln, der Griff nach Jamaikas Flagge, dann der Pfeil. Er streckt den linken Arm aus, der rechte lässt den Bolt (englisch für Pfeil) von der Sehne. Das Publikum ist fasziniert.
Usain Bolt ist ein liebenswertes Großmaul
So war das in den vergangenen zehn Jahren, in denen der 30-Jährige nur bei einem einzigen WM- und Olympia-Rennen nicht als Erster durchs Ziel lief. 2011 im 100-m-Finale von Daegu (Südkorea) war er nach einem Fehlstart disqualifiziert worden. Mehr hat er der Konkurrenz nicht gegönnt, weshalb ihn immer Argwohn begleitet hat. Viele seiner Konkurrenten sind als Doping-Sünder aufgeflogen – Bolt nicht. Ausgerechnet jetzt, vor seinem letzten Rennen, kommt der Pfeil nicht wie gewohnt vom Fleck. Die 9,95 Sekunden, die er zuletzt gelaufen ist, reichen in London nicht einmal zu einer Medaille. Bolt aber ist nicht der Typ, den das beunruhigt. Der Jamaikaner ist ein selbstbewusstes, liebenswertes Großmaul. „Ich bin noch immer der schnellste Mann der Welt. Das wisst ihr alle, daran gibt es einfach keinen Zweifel“, verkündet er im Stil von Schwergewichtsboxern, die vergessen haben, wie es ist, einen Kampf zu verlieren.
Der Gedanke, nicht als Erster durchs Ziel zu gehen, hat in Bolts Kopf keinen Raum. Selbst kurz vor dem Startschuss, wenn die Konkurrenz in sich versinkt, leistet sich Bolt noch die Faxen jenes 15-Jährigen, als der er im Nationalstadion von Kingston die internationale Bühne betreten hat. Nichts ist für ihn nur ernst. Er ist ein Spaßvogel, der Partys liebt und keiner Frau davonläuft. Aufgewachsen ist er mit Bruder und Schwester in einem schlichten Haus zwischen Kingston und Montego Bay. Jedes Geschwister hat eine andere Mutter. Der Junge, der an einer Wirbelsäulenverkrümmung litt, lief barfuß und trank Brunnenwasser. An der Schule gab es zwei Leichtathletik-Trainer, die das Talent des Elfjährigen erkannten. Von da an nahm sein Leben einen anderen Weg. Bolt wurde zum spektakulärsten und reichsten Leichtathleten der Geschichte. Er hat über hundert Millionen Dollar verdient. Was ihm noch fehlt, ist ein Abgang, der einer Legende würdig ist.
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