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Porträt: Lebensbilder

Porträt

Lebensbilder

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    München Es ist der Geruch von Gletschereis, an den sich Verena Bentele erinnert. Und an den hohlen Klang der Steine. Und an den Wind. Den sanften Wind, der ihr auf dem Gipfel des Kilimandscharo von allen Seiten übers Gesicht streicht.

    Das Gefühl des Windes auf ihrer Haut. Verena Bentele kennt das nur zu gut. Wie er ihr entgegenpeitschen konnte, wenn sie Kilometer für Kilometer auf der Loipe herunterriss. Sie, die erfolgreichste deutsche Behindertensportlerin aller Zeiten. Sie, die blinde Langläuferin und Biathletin, die vor eineinhalb Jahren ihre Karriere beendete – und heute gefragter ist denn je. Sie, die im Bewerberteam Münchens für die Olympischen und Paralympischen Winterspiele war. Und sie, die nun auch die Politik für sich entdeckt.

    Verena Bentele, 31, geboren in Lindau, steuert schnellen Schrittes auf das Café im Münchner Stadtteil Westend zu. Sie kommt direkt aus ihrem Büro im Zentrum. Mehrmals entschuldigt sie sich für die kurze Verspätung. „Ich habe die S-Bahn verpasst.“ An einem Holztisch unter der roten Markise erzählt sie von ihrem letzten Abenteuer. Davon, dass die größte Herausforderung bei der Besteigung des Kilimandscharo im Februar für sie gewesen sei, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Davon, dass eine Freundin sieben Tage ununterbrochen an ihrer Seite war: auf dem Weg zum Gipfel, zum Essenszelt, zur Toilette. „Das war für mich als Mensch, der sich permanent alleine bewegt, recht hart.“

    Bentele ist es gewohnt, ihren Alltag selbstständig zu meistern. Sie will das ja so. Auch wenn sie das als Sportlerin anders erlebt hat; da war sie auf einen Menschen an ihrer Seite angewiesen. Bei ihren Rennen hatte sie immer einen Begleitläufer. Er ersetzte ihr Augenlicht und gab ihr die Richtung vor. So wurde sie viermal Weltmeisterin und gewann zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics, den Olympischen Spielen für Athleten mit Behinderung. Das hat in Deutschland niemand vor und nach ihr geschafft.

    Der Kilimandscharo also. Afrika. Trotz ihrer geringen Bergerfahrung hat sie sich schnell zu dem Trip entschieden. Sie lacht. „Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann überleg’ ich nicht lange.“ Zweifel gab es, das schon. Aber erst nach der Zusage. „Ich wusste eigentlich gar nicht, ob ich das kann: sieben Tage auf dem Berg mit zwei Unterhosen, jeden Tag nur eine Schüssel Wasser.“

    Doch wenn sich Verena Bentele für etwas entscheidet, dann zieht sie es durch. So kam sie auch aus ihrem körperlichen Tiefpunkt Anfang 2009 heraus. Damals hat ihr Begleitläufer bei der deutschen Meisterschaft in Nesselwang im Ostallgäu die Kommandos links und rechts verwechselt. Er schickte sie aus Versehen in die falsche Richtung. Die Biathletin stürzte einen Abhang hinunter und verletzte sich schwer, das Kreuzband riss. Als Folge des Sturzes musste ihr sogar eine Niere entfernt werden.

    „Danach wollte ich unbedingt wieder fit werden und etwas gewinnen“, sagt sie. Lächelt und tastet nach ihrem Milchkaffee. Am Himmel über dem Münchner Westend verdichten sich die Wolken allmählich zu einer weißgrauen Decke. Die ersten Regentropfen ploppen auf die Markise. „Wenn es Ihnen auf den Kopf regnet, dann sagen Sie Bescheid“, sagt Bentele. Noch aber bleibt es unter dem Schutz des roten Stoffes trocken.

    Auf den Winter, in dem sie so tief stürzte, folgte der Winter, in dem die Sportlerin ganz oben stand. Doch zunächst musste sie einen neuen Begleitläufer finden, zu dem sie wieder Vertrauen fassen konnte. Sie fand ihn in Thomas Friedrich, der bereits ihren blinden Bruder Michael bei den Paralympics in Salt Lake City und Turin geführt hatte. Mit Friedrich an ihrer Seite feierte Bentele ihren größten Erfolg: Fünfmal standen die beiden in Vancouver auf dem obersten Treppchen.

    Mittlerweile prasselt der Regen. Immer mehr Tropfen verirren sich auch unter die Markise. „Ich glaube, wir gehen mal rein“, schlägt die Wahlmünchnerin vor, die ganz in der Nähe wohnt. An einem runden Tisch im Innern des Cafés erzählt sie dann von ihrem Entschluss, mit 29 Jahren ihre Sportkarriere zu beenden. „Das war die richtige Entscheidung und der richtige Zeitpunkt“, sagt sie rückblickend. Ein Comeback schließt sie aus. Wenngleich der Gedanke an die nächsten Winterspiele im russischen Sotschi für sie befremdlich ist: „Selber nicht mehr aktiv zu sein, nicht im paralympischen Dorf zu wohnen und nicht auf dem Treppchen zu stehen, das wird noch mal hart.“

    Bevor Bentele ihren Rücktritt öffentlich machte, hat sie ihr Literaturwissenschaftsstudium in München abgeschlossen. Immer wieder ist zu lesen, ihr Karriereende hänge damit zusammen, dass ihr Begleitläufer Thomas Friedrich aufgehört hat. Dem widerspricht sie. Die Entscheidung sei ganz allein ihre gewesen, sagt sie. „Vielleicht hätte ich ihn schon noch einmal überzeugen können.“

    Nach ihrem Rücktritt machte Bentele eine Coaching-Ausbildung. Heute arbeitet sie als Beraterin und hält Vorträge in Unternehmen. Aber auch in Schulen. Sie engagiert sich für den Verein SV Zukunft, der Jugendlichen mit wenig Perspektiven am Beispiel des Sports zeigen will, dass es sich lohnt, für seine Träume zu kämpfen. Darüber hinaus setzt sie sich dafür ein, dass behinderte Schüler gleichberechtigt am Sportunterricht teilnehmen können. „Man muss versuchen, positiv an die Sache zu gehen, die Begabungen eines Menschen hervorzuheben“, sagt sie. Und nicht die Schwierigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. „Ich kann nicht Grafik-Designerin werden als Blinde. Dafür habe ich andere Begabungen.“

    Verena Bentele streicht sich durch das fast kinnlange blonde Haar. Sie spricht sehr schnell. Darüber würden sich ihre Interviewpartner gelegentlich beschweren, sagt sie und lacht. Bentele lacht überhaupt sehr viel. Auch, als sie erzählt, dass der Bambi, der ihr 2010 für ihre sportlichen Erfolge verliehen wurde, bei ihren Eltern in Tettnang am Bodensee vor einem Spiegel auf einer Kommode steht. In ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in München gebe es keinen „würdevollen Platz“ für das goldene Rehkitz.

    „Sie ist hungrig auf Siege, auf Medaillen, auf Rekorde“, hat Moderator Johannes B. Kerner die Sportlerin damals bei der Bambi-Verleihung in Potsdam angekündigt. Als sie in einem dunkellilafarbenen langen Abendkleid im Scheinwerferlicht auf der Bühne stand und die Menschen im Saal applaudierten, flüsterte Kerner ihr zu: „Jetzt stehen sie alle auf.“ Bentele kämpfte vor laufender Kamera mit den Tränen. „Meine Mutter hat mir gestern Morgen beim Frühstück gesagt, ich soll mir überlegen, was ich sagen will“, sagte sie zu Beginn ihrer Dankesrede. „Und ich hab’ jede Wette verloren, weil ich gesagt habe: Mama, ich krieg’ den Bambi eh nicht.“

    Einsam ist das goldene Rehkitz im Besitz der jungen Frau jedoch nicht. Besonders stolz ist sie auf den „Sport-Oscar“, den internationalen Laureus-Award, „weil die Wahl von anderen Sportlern getroffen wird“. Vor allem zu Beginn ihrer Karriere sah sie die Leistungen von behinderten Athleten in der Öffentlichkeit nicht immer ausreichend gewürdigt – etwa bei der Wahl zu Deutschlands „Sportler des Jahres“. „Ich weiß nicht, was man da als Behindertensportler für Purzelbäume machen müsste, um unter die ersten Drei zu kommen“, sagt Bentele. „Aber ich habe meinen Frieden damit geschlossen. Noch mit 20 habe ich mich gefragt: Paralympischer Sport ist genauso toll, ist genauso Leistungssport wie olympischer. Warum aber werden wir da so wenig berücksichtigt?“

    Bentele holt ihr Handy aus der Tasche. Sie hat eine SMS bekommen. Nun hält sie sich das Mobiltelefon ans rechte Ohr und lauscht. Eine automatische Männerstimme liest den Inhalt derart schnell vor, dass es für Ungeübte unmöglich ist, auch nur Wortfetzen zu verstehen. Nachher sagt sie, in der Nachricht sei es um den Halbmarathon in Kempten gegangen, bei dem sie im April mitgelaufen ist.

    Im Juni steht schon die nächste sportliche Herausforderung an. Bentele will beim norwegischen Radmarathon von Trondheim nach Oslo mitfahren. Er ist mit 540 Kilometern der längste Europas. „Ich probiere gern Sachen aus, die extrem, anstrengend und ungewöhnlich sind.“ Auch Bungeejumping zählt zu den Sportarten, die sie getestet hat. Noch in diesem Jahr soll ein Fallschirmsprung folgen.

    In die einst so vertraute Loipe hat sie es im vergangenen Winter nicht geschafft. So sehr ist sie anderweitig eingespannt. Zum Beispiel als Mitglied im Wahlkampfteam des bayerischen SPD-Spitzenkandidaten Christian Ude für die Themen Sport und Inklusion. „Das mache ich nicht, um einen Job zu kriegen“, sagt Bentele. Zumindest momentan komme für sie keine Karriere als Politikerin in Frage. Wie soll die Zukunft dann aussehen? „Ich habe im Moment so viele Baustellen“, sagt Verena Bentele. Und lässt eine klare Antwort offen.

    Draußen vor dem Café faltet sie den weißen Blindenstock auf und verabschiedet sich mit einem festen Händedruck. Vereinzelt dringen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und trocknen die rote Markise. Schnellen Schrittes läuft sie in die Richtung, aus der sie zwei Stunden zuvor gekommen ist. Eineinhalb Jahre ist es nun her, dass sie ihrer Sportkarriere ein Ende gesetzt hat. Ruhe ist in ihrem Leben deshalb noch lange nicht eingekehrt.

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