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Porträt Joachim Gauck: Der Freigeist

Porträt Joachim Gauck

Der Freigeist

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    Seit klar ist, dass er Bundespräsident werden wird, hat sich Joachim Gauck große Auftritte verkniffen. Der Wirbel ist auch so schon sichtlich groß genug.
    Seit klar ist, dass er Bundespräsident werden wird, hat sich Joachim Gauck große Auftritte verkniffen. Der Wirbel ist auch so schon sichtlich groß genug. Foto: dpa

    Ein großer Bahnhof sieht anders aus. Draußen, vor dem Preußischen Landtag, drängeln sich wenigstens noch ein paar Passanten und das übliche Dutzend Fotografen und Kameraleute um den künftigen Bundespräsidenten. Drinnen allerdings hat die Parlamentsverwaltung doch etwas zu großzügig bestuhlt. Dass sie die letzten Abgeordneten sind, mit denen Joachim Gauck vor seiner Wahl diskutiert, empfinden die Berliner Landespolitiker offenbar nicht als besonderes Privileg. Im Gegenteil. Ein Drittel der Plätze bleibt an diesem Nachmittag frei. Vorsichtig geschätzt.

    Vorschusslorbeeren sind ihm in der ganzen Republik sicher

    Derart dürftig ist das Interesse selten. Wo immer Gauck zuletzt Station gemacht hat auf seiner improvisierten Rundreise durch die Landtage und Parteipräsidien der Republik: wohlwollende Aufmerksamkeit war ihm sicher – und jede Menge Vorschusslorbeeren sowieso. „Hier sind Sie bei Ihrem liberalen Fanklub“, schmunzelt Rainer Brüderle vielsagend, als Gauck die Bundestagsfraktion der FDP besucht. Die CSU-Spitze feiert den Kandidaten in München mit stehenden Ovationen. Und in Stuttgart ist sich der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach Gaucks Besuch sicher: „Er wird uns viele Anstöße und Anregungen geben.“ Vor der Bundesversammlung am Sonntag, so scheint es, freut sich die Republik parteiübergreifend auf ihren neuen Präsidenten. Zwei von drei Deutschen halten Joachim Gauck für eine gute Wahl. Nach einer Umfrage des Forsa-Institutes ist nur ein Mann in Deutschland noch besser als Vorbild geeignet: Helmut Schmidt.

    Hier in Berlin verabschiedet Gauck sich nach einer Stunde wieder – mit einem Lob für die Piratenpartei, die dort seit Herbst im Parlament sitzt und seine Kandidatur eigentlich eher skeptisch sieht. Gauck jedoch, der Handlungsreisende in Sachen Demokratie, trennt das eine vom anderen: „Ihre Bereitschaft, mitzuwirken und Verantwortung zu übernehmen, das imponiert mir.“

    Über die große Krise, findet er, wird schon genug diskutiert

    Dass der Martin-Gropius-Bau schräg gegenüber gerade Fotografien des chinesischen Bürgerrechtlers Ai Weiwei zeigt, ist zwar nur ein Zufall – aber ein bezeichnender. Die Freiheit und das kompromisslose Eintreten für sie sind auch das Lebensthema des Joachim Gauck. Das Thema, das seine Präsidentschaft prägen soll. Die Menschen hätten sich schließlich auf ihn eingelassen, sagt er, weil seine Freiheitsbotschaft nicht so einseitig sei, wie ihm mitunter vorgeworfen werde. Nicht so kapitalistisch-kühl, sondern voller Empathie. Über die große Krise, soziale Gerechtigkeit oder die Atomenergie, findet er, wird in Deutschland schon genug diskutiert.

    Paradox ist die Situation dennoch. In einer Zeit, in der der deutsche Staat erst für die Spargroschen seiner Bürger bürgen musste und dann mit irrwitzig hohen Summen für die Schulden anderer Länder, rückt ein Mann an dessen Spitze, der alles andere ist als ein Anhänger eines starken, bevormundenden Staates. Das liegt, zum einen, an Gaucks Biografie und dem notorischen Dissens zu den DDR-Oberen, in dem er ein halbes Leben lang gelebt hat, zum anderen aber auch an einem eher konservativen Weltbild, das Eigenverantwortung noch als Wert begreift, nicht als lästige Pflicht.

    „Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen“, sagt der Pastor Gauck schon 1988 in einer Predigt, lange vor dem Mauerfall. Heute allerdings ahnt er: „Wenn ich dieselben Sprüche loslasse wie in der Vergangenheit, bin ich bald in einer misslichen Lage.“ Er weiß, dass er als oberster Repräsentant seines Landes nicht nur offen und unbequem sein soll, sondern auch diplomatisch und ein wenig weltläufig. Dass er es mit dem Kritisieren nicht übertreiben darf und mit dem Moralisieren schon gar nicht.

    An jenem Sonntag kokettiert er noch mit der Situation

    Selbst wenn nach dem Rücktritt von Christian Wulff alles ganz schnell gehen musste: Unvorbereitet tritt er sein Amt nicht an. An jenem denkwürdigen Sonntag im Februar, an dem die FDP der Kanzlerin ihren Favoriten Gauck aufzwingt, kokettiert der zwar noch mit der Situation. Bittet, ihm die ersten Fehler gütig zu verzeihen, schließlich sei auch er „kein Supermann“. Wenig später aber beginnt der Kandidat bereits, von einem eilends eingerichteten Büro aus, die Operation Präsidentschaft zu organisieren. Mit dabei sind zwei Männer, die beide bei der Stasi-Unterlagenbehörde gearbeitet haben: David Gill, ein evangelischer Theologe wie er, der neuer Chef des Präsidialamtes werden soll, und Andreas Schulze, der Gauck-Macher.

    Noch vor der Wiederwahl von Horst Köhler im Mai 2009 hatte der gebürtige Ostberliner Schulze seiner Parteifreundin Renate Künast eine SMS geschrieben und ihr vorgeschlagen, Gauck doch als Gegenkandidaten zu nominieren. Dazu kommt es dann zwar nicht, ein Jahr später jedoch, nach Köhlers Rücktritt, erinnert die Grüne sich an den Tipp. Sie fragt ihren Kollegen Jürgen Trittin, was er davon hält, der ruft bei Sigmar Gabriel an – und schon steht Gaucks erste Kandidatur.

    Zu seinen diskreten Zuarbeitern gehört auch damals schon der Allgäuer Hansjörg Geiger. Als ehemaliger Chef des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes weiß der 69-Jährige, wie Ämter und Ministerien ticken, wie ein Apparat geführt werden muss und welches gefährliche Eigenleben er gelegentlich entwickeln kann. Der Spitzenbeamte Geiger hat die Gauck-Behörde mit aufgebaut, er kennt ihren ersten Leiter wie wenige sonst und berät ihn auch jetzt. Gauck, sagt er, habe neben einer präzisen Sprache, die auch komplizierteste Dinge auf den Punkt bringt, vor allem eine Gabe: In einer Zeit zunehmender Kontrollwut setze er auf die Verantwortung jedes Einzelnen. Kurz: „Er traut den Menschen etwas zu.“

    Um nicht weiter anzuecken, hat Gauck auf Deeskalation gesetzt

    Die Neu-Ulmer Grünen-Abgeordnete Ekin Deligöz denkt da ganz ähnlich. Sie sitzt im Vorstand von Gaucks Organisation „Gegen Vergessen und für Demokratie“ und engagiert sich dort gegen Rassismus und Intoleranz. Dass einige Grüne ihn am Sonntag nicht wählen wollen, weil er sich zu wenig für das Thema Integration interessiere und den Banken nicht kritisch genug auf die Finger sehe, findet die 40-Jährige „absurd“. Sie jedenfalls, sagt sie, schätze Joachim Gauck als Menschen, „der zuhören und Argumente aufnehmen kann“. Begegnungen mit ihm seien für sie immer „wie eine Geschichtsstunde“.

    Der Kandidat selbst hält den Ball lieber etwas flacher – zumindest für den Moment. Er müsse noch richtig an sich arbeiten, erzählt er am Rande eines Besuches im polnischen Lodz dem Spiegel: „Welches ist der Weg, authentisch zu bleiben und doch nicht wie ein Provokateur zu wirken?“ Seit klar ist, dass er Bundespräsident werden wird, hat Gauck sich größere öffentliche Auftritte verkniffen. Der Wirbel war auch so schon groß genug. Dass er Thilo Sarrazins Thesen für mutig hält und die kapitalismuskritische Occupy-Bewegung für unsäglich albern, ist bei der Internetgemeinde und einigen Grünen nicht gut angekommen. Um vor seiner Wahl nicht noch weiter anzuecken, hat Gauck deshalb auf Deeskalation geschaltet, hat sein Lob für Sarrazin ein wenig relativiert und sich ansonsten, schon ganz Staatsmann, in die wolkige Sprache der Diplomatie geflüchtet. Er wolle, sagt er jetzt, Wulffs Bemühungen um eine bessere Integration von Migranten fortführen, wenn auch mit anderer Wortwahl…

    Wie anstrengend die Wochen waren, verrät sein Gesicht

    Sich selbst treu zu bleiben, sich nicht zu verbiegen oder verbiegen zu lassen, ist nicht so einfach in einem Amt, das nur allzu oft den Zwängen des Protokolls folgt und seinen Inhaber zu staatstragender Zurückhaltung verpflichtet. Joachim Gauck, der Freigeist, hat nach seinem Abschied aus der gleichnamigen Behörde lange darauf gehofft, dass sich in der Politik irgendwo noch eine Tür für ihn öffnet. Nun aber, da es die zum Schloss Bellevue ist, wird er vermutlich nicht an Christian Wulff oder Horst Köhler gemessen werden, seinen glücklosen Vorgängern, sondern an einem wie Richard von Weizsäcker, der in Ton wie Stil Maßstäbe gesetzt hat. Darunter allerdings, darf man annehmen, würde ein Gauck es auch nicht machen wollen. So eitel ist er dann doch. Bei seiner ersten Kandidatur jedenfalls hat er die Latte hochgelegt: Damals wollte er nicht weniger, als die „bittere Distanz“ zwischen Regierenden und Regierten überwinden.

    Wie anstrengend die vergangenen drei Wochen für ihn waren, verrät ein Blick in sein Gesicht: Der Teint ist etwas blasser geworden, der Blick etwas müder, das Lächeln gelegentlich etwas bemühter. Der Umkehrschluss, dass er seiner neuen Aufgabe im reifen Alter von 72 Jahren womöglich nicht mehr gewachsen ist, ist dennoch nicht erlaubt. Nach dem Mauerfall, seiner zweiten Chance, hat Joachim Gauck nun unversehens auch noch eine dritte Chance bekommen. Im Herbst seines Lebens erlebt der gebürtige Rostocker, der in der DDR kein Revolutionär war, sondern nur ein unangepasster Kirchenmann, noch einen politischen Frühling – als erster Repräsentant eines freien Landes.

    „Mag sein“, hat er schon vor drei Jahren in seinen Erinnerungen geschrieben, „dass uns ungewohnte Lasten auferlegt werden.“ Die Freiheit aber, nach der er sich so lange gesehnt hat, „wird mir immer leuchten“.

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