Der Wandel beginnt bekanntlich oft im Kleinen. Zum Beispiel im Warschauer Stadtteil Praga. Dort ziehen sich die sechs Spuren der Ulica Grochowska über fast zehn Kilometer wie ein Bandwurm hin, bevor sie in einen Schnellstraßenknoten münden. Dazwischen waren über Jahrzehnte hinweg die Gleise einer Trambahntrasse einbetoniert. Zusammen ergab sich ein Bild von Asphalt, Stein und immer mehr Autoblech. Doch seit wenigen Wochen kann man in Praga ein kleines grünes Wunder bestaunen.
Die Stadt nutzte die überfällige Sanierung der Schienen für eine Klimaoffensive und ließ das Gleisbett mit Sedum bepflanzen. Die schillernden Dickblattgewächse binden CO2 ähnlich gut wie Moos. Eine halbe Million Euro haben die Verkehrsbetriebe dafür in die Hand genommen. Das erste Drittel ist nun fertig. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, dessen Wirtschaft zwar seit dem EU-Beitritt 2004 einen Dauerboom erlebt hat.
Verkehrs- und Warenfluss stellte Polen bislang über Umweltbelange
Die meisten Infrastrukturmittel jedoch flossen in den Ausbau des Straßennetzes. Für Umweltbelange interessierten sich die wechselnden Regierungen weit weniger als für den Verkehrs- und Warenfluss. Das brachte Polen den Ruf des „Klimasünders Nummer eins“ in Europa ein. Die Zahlen geben das zwar nicht her. Deutschland etwa, das nach außen mit einem ganz anderen Anspruch auftritt, erzeugt pro Kopf mehr CO2 als Polen. Aber völlig falsch ist das Bild auch nicht.
Noch immer bezieht Polen drei Viertel seiner Primärenergie aus besonders klimaschädlicher Kohle, und die rechtskonservative PiS-Regierung will das bestenfalls langfristig ändern. Das Ziel der EU-Kommission, Europa bis 2050 mit einem „Green Deal“ zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, lehnt sie ab. Damit jedoch scheint sich die PiS immer weiter von den Bedürfnissen der Bevölkerung zu entfernen, wie eine aktuelle Studie zum „Grünen Potenzial“ in Polen belegt. Ein Ergebnis: Eine große Mehrheit im Land will die Öko-Wende.
Die Polen wollen erneuerbare Energien zum Klimaschutz
Aber auch im Detail förderte die Untersuchung verblüffende Ergebnisse zutage. So antworteten vier von fünf Befragten, der Einsatz erneuerbarer Energien sei die beste Möglichkeit, die Umwelt und das Klima zu schützen. Im europaweiten Vergleich war das der absolute Spitzenwert. Und während etwa im grünen Vorzeigeland Deutschland nur jeder Dritte die E-Mobilität für einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz hält, sind es jenseits der Oder doppelt so viele Menschen.
Die meisten Polen haben auch keinen Zweifel, dass der menschengemachte Klimawandel eine wissenschaftliche Tatsache ist (80 Prozent). Wie passt all das zusammen mit dem Bild von der Dreckschleuder des Kontinents? „Die Probleme sind einfach da und belasten die Menschen“, sagt Patryk Bialas, der als einziger grüner Politiker im Stadtrat von Katowice sitzt, dem Zentrum des oberschlesischen Kohlereviers. Die schlechte Luft erhöhe den Veränderungsdruck enorm.
33 der 50 schmutzigsten Städte Europas liegen in Polen
Tatsächlich liegen 33 der 50 schmutzigsten Städte Europas in Polen. Jahr für Jahr sterben rund 40.000 Menschen wegen der hohen Schadstoffbelastung vorzeitig. Deshalb sind in den vergangenen Jahren auf lokaler Ebene zahllose Bürgerinitiativen entstanden, die sich die Verbesserung der Luftqualität zum Ziel gesetzt haben. Seit 2015 gibt es mit der Organisation „Polnischer Smogalarm“ einen Dachverband.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Grünen in Polen bei Wahlen bislang chancenlos waren. Im Sejm sitzen zwar drei Abgeordnete der Partei. Das gelang aber nur, weil die Grünen bei der Parlamentswahl 2019 auf der Liste der liberalkonservativen Bürgerkoalition kandidierten. Die Partei allein kam auf 0,58 Prozent der Stimmen.
Klimasünder? Naturnähe gehört zu den polnischen Traditionen!
Politikwissenschaftler erklären dies meist mit einer Ablehnung westlich geprägter Vorbilder im Osten Europas. Der ehemalige PiS-Außenminister Witold Waszczykowski brachte es einmal auf die Formel: „Wir wollen hier keine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit polnischen Werten nichts zu tun.“ Doch genau eine solche Welt scheinen immer mehr Menschen im Land herbeizusehnen. Zumal zu polnischen Traditionen durchaus die Naturnähe gehört: das Beeren- und Pilzsammeln in den Masuren oder das Wandern in den Karpaten.
Politisch könnte sich aus dieser Gemengelage ein lang nicht für möglich gehaltener Umbruch entwickeln. Treibende Kräfte sind der Warschauer Oberbürgermeister Rafal Trzaskowski, der bei der Präsidentenwahl Mitte Juli nur hauchdünn gegen Amtsinhaber Andrzej Duda verlor, den Kandidaten der PiS, sowie der Drittplatzierte Szymon Holownia.
Der parteilose TV-Moderator Holownia wird in Polen meist als linkskatholisch oder gemäßigt-konservativ beschrieben. Bei der Wahl trat er allerdings mit einem stark grün eingefärbten Programm an und forderte Klimaneutralität bis 2050. Nun will er im Stil des französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine Bewegung gründen statt einer klassischen Partei. Trzaskowski hat ähnliche Gedankenspiele geäußert. Tun sich die beiden zusammen, könnte in Polen eine bürgerliche, grün-liberale Kraft entstehen, die von der PiS nur schwer zu schlagen sein dürfte.
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