Ältere Beobachter des nun vierten Piraten-Parteitags fühlten sich noch immer erinnert an die Gründungszeiten der Grünen. Zwar ersetzten am Wochenende in Offenbach Laptops das Strickzeug von einst. Doch die 1300 jungen Piraten suchten ebenso kontrovers ihren Kompass für die Kaperfahrt in den Bundestag, wie damals die Öko-Paxe auf ihrem legendären Gründungsparteitag 1980 in Karlsruhe. Damals rangen Konservative wie Baldur Springmann mit heimatlosen Kommunisten und den Nürnberger Stadtindianern. Und in Offenbach stritten diesmal sozial Progressive mit Wirtschaftsliberalen um den Kurs der Partei. Utopisten und Drogen-Fans blieben dabei auf der Strecke.
Die Masse der rund 400 von der Basis eingereichten und teils kuriosen Anträge wie etwa ein "Grundrecht auf öffentliche Nacktheit" oder die "Abschaffung von Sommer- und Winterzeit" mussten vertagt werden, weil die Piratenpartei ihrem Vorsitzenden Sebastian Nerz zufolge nach ihrem Wahlerfolg in Berlin mit knapp neun Prozent "in der Realpolitik angekommen" ist. Nach Positionen etwa zur Netz- und Medienpolitik, die sich die Piraten auf ihren ersten drei Parteitagen seit 2010 für ihren politischen Kompass verordnet hatten, wird dem Tübinger Bioinformatiker zufolge nun "von uns erwartet, dass wir auch Lösungen finden für wirtschaftliche Fragen."
Die waren und sind auch nach Offenbach auf der Seekarte der Piraten noch weithin unbekanntes Land. Der aus der CDU kommende Nerz definierte seine Partei zwar einerseits als "sozialliberal", zugleich sei sie aber selbst für FDP-Mitglieder "die neue liberale Hoffnung in Deutschland". Doch diese Hoffnung trügt.
Die Piratenpartei fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen
Dass der wirtschaftsliberale Flügel einen Beschluss zur Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern im Grundsatzprogramm durchsetzten konnte, um Selbständigen mehr Freiheit zu geben, passt zwar in dieses Bild. Doch es verblasst zur Bedeutungslosigkeit gegenüber dem neuen sozialen Linkskurs, den sich die Piraten verordneten.
Die Partei schrieb sich neben der Begrenzung der Leiharbeit und der Abschaffung von Sanktionen bei Hartz-IV-Leistungen mit Zweidrittel-Mehrheit die Forderung nach einem "Bedingungslosen Grundeinkommen" für alle Bürger ins Programm. Dieses Bürgergeld soll allen "eine sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ohne Zwang zur Arbeit oder anderen Gegenleistungen sichern". Vom Bundestag sollen dazu Modelle entwickelt werden.
Die Ziele der Piratenpartei
"Mehr Demokratie wagen!" ist nach eigenen Angaben ein Leitgedanke der Piraten. "Unsere innerparteilichen Strukturen sind basisdemokratisch. Auch gesellschaftlich wollen wir Veränderungen hin zu mehr Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung erreichen."
"Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation sind aus der modernen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken und müssen auch durch staatliches Handeln sichergestellt und sogar gefördert werden", heißt es zum Thema digitale Gesellschaft.
Zum Thema Umwelt: "Die Piratenpartei steht für Nachhaltigkeit. Deshalb wollen wir so handeln, dass auch in Zukunft die Grundlagen für eine würdige Existenz in Freiheit vorhanden sind. Voraussetzung dafür ist ein transparenter und verantwortungsvoller Umgang mit den natürlichen Ressourcen."
Die Forderung einer transparenten Politik statt eines gläsernen Bürgers ist nach eigener Aussage Kernbestandteil der politischen Arbeit der Piraten. "Einzig die Piratenpartei handelt jedoch auch entsprechend: Vorstandssitzungen, Fraktionssitzungen oder auch Kontostände der Gliederungen sind prinzipiell öffentlich", schreibt die Partei auf ihrer Internetseite.
Der freie Zugang zu Bildung zählt zu den Gründungsthemen der Piraten: "Im Unterschied zu den etablierten Parteien wollen wir den Prozess des Lernens jedoch an die individuellen Fähigkeiten anpassen." Das Motto der Piraten lautet: "Lernziele statt Lehrpläne!"
Patente auf Software und Gene lehnt die Partei ab: "Im Wandel vom Industriezeitalter zum Informationszeitalter entwickeln sich die weltweit herrschenden Patentregelungen teilweise vom Innovationsanreiz zum Innovationshemmnis."
Drogenpolitik müsste nach Ansicht der Piraten eigentlich "Suchtvermeidungspolitik" heißen. Ihr Ansatz ist, durch die Legalisierung von Drogen zu einem verantwortungsvollem Umgang mit Rauschmitteln zu gelangen. Die gegenwärtige Praxis sei bestimmt durch Ignoranz medizinischer und gesellschaftlicher Fakten. Sie trage dem Ziel der Suchtvermeidung keine Rechnung und sei gescheitert.
Die Piratenpartei ist davon überzeugt, dass ein fahrscheinfreier ÖPNV nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft langfristig einen Gewinn darstellt. Sie fordert eine Machbarkeitsanalyse.
Gefordert wird auch eine Reform des Urheberrechts: "Die derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen im Bereich des Urheberrechts beschränken das Potential der aktuellen Entwicklung, da sie auf einem veralteten Verständnis von so genanntem ´geistigem Eigentum` basieren, welches der angestrebten Wissens- oder Informationsgesellschaft entgegen steht."
Das Modell eines solidarischen Bürgerelds wird etwa auch vom ehemaligen thüringischen CDU-Ministerpräsidenten Dieter Althaus vertreten und sieht dazu eine Reform der Einkommensteuer und die Zusammenführung der staatlichen Transferleistungen vor. Für Wirtschaftsliberale war es in Offenbach gleichwohl ein rotes Tuch. "Das ist Kommunismus", rief eine junge Piratin, und "Wir fördern die Faulheit", empörte sich ein anderer.
Dieser Meinungsbildungsprozess, in dem sich in langem und geduldigem Ringen um die besseren Argumente eine Mehrheit herausbildete, macht für viele Anhänger anscheinend den eigentlichen Charme der Partei aus: Im Gegensatz zu den etablierten Parteien kennen die Piraten kein Delegiertensystem. Jedes einzelne Mitlied kann sich deshalb immer mit Anträgen und Änderungsvorschlägen einbringen und außerhalb von Parteitagen über interne elektronische Foren an der ständig fließenden Meinungsbildung teilhaben.
Bei den Piraten können sich die Menschen unmittelbar beteiligen
"Politik machen, heißt die Zukunft selbst gestalten zu wollen", sagt Gerhard Anger, einer der profiliertesten Köpfe der Piraten. "Im Gegensatz zu den etablierten Parteien können sich bei uns die Menschen daran unmittelbar beteiligen", fügt der Berliner Landesvorsitzende hinzu. Und mit diesem Konzept, das dem Zeitgeistbedürfnis des Mitgestaltens in der Politik entspricht, brachte er die Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus und den Traum der Grünen-Kandidatin Renate Künast vom Bürgermeisteramt zum Platzen.