Die Beschlüsse über den vierwöchigen „Lockdown light“ sind gefasst – jetzt beginnt die Überzeugungsarbeit. Fast zeitgleich mit der Kanzlerin, die sich im Bundestag heftiger Kritik erwehren musste, haben am Donnerstag auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und sein Vize Hubert Aiwanger in München erklärt, warum die Corona-Pandemie aus ihrer Sicht nur so und nicht anders eingedämmt werden kann. Ihre Botschaft: Wenn der Staat Kontakte von Mensch zu Mensch beschränken, gleichzeitig aber Kitas, Schulen und den Handel offen halten will, dann blieben keine Alternativen, als gastronomische Betriebe, Kultur- und Sportstätten zu schließen, Veranstaltungen aller Art abzusagen und private Zusammenkünfte auf ein Minimum zu beschränken. Diese vier Wochen, sagt Söder, seien eine „bittere Pille“. Aber es sei „die einzige Medizin, die hilft“. Für Aiwanger ist klar, dass der private Bereich „der Infektionstreiber“ gewesen sei. „Wir können uns nur mit Disziplin aus dieser Situation wieder herausbewegen.“
Die harten bundesweiten Maßnahmen im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus drohen das Land zu spalten. Auch am Tag nach ihren Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten ist die Kanzlerin überzeugt, dass es unausweichlich ist, das gesellschaftliche Leben herunterzufahren, um zu verhindern, dass die Lage außer Kontrolle gerät und das Gesundheitssystem kollabiert. „Der Winter wird schwer, aber er wird enden“, sagt Angela Merkel. Ihre Regierungserklärung wird immer von wüsten Zwischenrufen aus der AfD-Fraktion gestört.
Die Wut ist groß – auch bei den Betroffenen, zum Beispiel unter den Gastronomen, die im November wieder für Gäste zusperren müssen. „Wir bekommen sicher eine Pleitewelle. Viele Wirte geben aber auch einfach auf, weil ihnen die ewige Unsicherheit, also das Rauf- und Runterfahren ihrer Betriebe, zu viel wird“, sagt Bayerns Hotel- und Gaststätten-Chefin, Angela Inselkammer. Tatsächlich haben viele Wirte genau wie Kulturbetreiber oder Sportvereine aufwendige Hygiene-Konzepte entwickelt und werden nun dennoch zum zweiten Mal in diesem Jahr besonders hart von den Einschränkungen getroffen. Auch viele Bürger fragen sich, warum ein Essen in einem Lokal mit klaren Abstands- und Hygieneregeln gefährlicher sein soll als ein privates Treffen.
In Augsburg steigt der 7-Tage-Wert auf 256,7
Um die Lage wieder in den Griff zu bekommen, müssten die Kontakte zu anderen Menschen um 75 Prozent reduziert werden, rechnet Söder noch einmal vor. Er zweifelt zudem daran, dass Gastronomie, Sport und Kultur bei der Verbreitung des Virus tatsächlich außen vor seien. Das Robert-Koch-Institut sage ausdrücklich, dass nur noch 20 Prozent der Infektionen überhaupt nachvollziehbar seien. Das Virus sei mittlerweile „so breit gestreut, dass Ansteckung überall möglich ist“.
Die neuen Kontaktbeschränkungen gelten in Bayern nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Privaträumen. Bedeutet: Ab Montag dürfen sich nur noch maximal zehn Personen aus zwei Haushalten treffen – egal, ob drinnen oder draußen. Verstöße werden sanktioniert.
Söder und Merkel argumentieren vor allem mit der Situation in den Krankenhäusern, wo immer mehr Intensivbetten belegt sind. In Augsburg zum Beispiel, wo der Inzidenzwert am Donnerstag auf 256,7 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen gestiegen ist, arbeitet das Uniklinikum schon jetzt unter Volllast. In der Stadt gelten die verschärften Regeln bereits ab diesem Freitag.
So einig sich die Regierungschefs von Bund und Ländern dieses Mal in ihren Verhandlungen waren, so viele Fragen werfen ihre Entscheidungen trotzdem auf. Warum ist es möglich, einen Kindergarten offen zu halten, aber kein Fitnessstudio? Warum ist die Begegnung von Menschen in einer Kirche in Ordnung, auf dem Sportplatz oder im Theater aber zu riskant? Nicht auf all diese Fragen haben die Verantwortlichen eine Antwort. Klar ist aber, sie haben durchaus Konsequenzen aus dem ersten Stillstand im Frühjahr gezogen.
Damals hatten Kinder und Familien besonders unter den Maßnahmen gelitten. Deshalb haben Kitas und Schulen jetzt Priorität und sollen offen bleiben, wenn das irgendwie machbar ist. Die gebeutelten Wirte und andere Unternehmer mit bis zu 50 Mitarbeitern, denen vier weitere Wochen ohne Einnahmen die Existenz rauben könnten, sollen 75 Prozent ihrer entgangenen Umsätze vom Staat erstattet bekommen. Als Maßstab gilt der November 2019. Das honoriert auch Angela Inselkammer und appelliert an ihre Kollegen: „Haltet durch. Die Menschen brauchen uns, sonst vereinsamen sie vor ihren Computern.“
Ist ein normales Weihnachten möglich?
Söder zeigt Verständnis für den Frust und die Ängste. „Trifft das hart? Ja. Tut das weh? Natürlich. Sind da Existenzen herausgefordert? Ja, leider“, sagt der CSU-Chef. In der Gastronomie und der Kultur sei es besonders schmerzhaft. Zum Ausgleich aber gebe es ein Programm, das es so in Deutschland noch nie gegeben habe: Zehn Milliarden Euro Entschädigungen für einen Monat. Die größte Belastung bleibt für Bürger wie Unternehmer die Unsicherheit. Der Rückhalt für die Einschränkungen ist laut Umfragen immer noch groß in der Bevölkerung. Doch das ist nur die rationale Seite. Die emotionale ist eine andere, zumal keine Entwarnung in Sicht ist. FDP-Chef Christian Linder spricht aus, was viele fürchten: „Droht dann im Januar die dritte Welle mit dem dritten Lockdown?“
Die Regierenden argumentieren, es sei besser, noch einmal scharf zu bremsen als später dauerhaft auf der Bremse stehen zu müssen. Immer wieder ist davon die Rede, dass sich jetzt entscheidet, ob ein halbwegs normales Weihnachtsfest – und Weihnachtsgeschäft – möglich sein wird. Also Augen zu und durch? Das sehen nicht alle so. Es gilt als wahrscheinlich, dass es auch diesmal Klagen geben wird. Schon das Beherbergungsverbot oder die Entscheidung im Frühjahr, dass alle Läden mit mehr als 800 Quadratmetern schließen müssen, waren von Gerichten gekippt worden.
Viel diskutiert wird auch das nun bundesweit einheitliche Vorgehen. Hier steckt die Politik in einem Dilemma: War zuvor oft die Unübersichtlichkeit zwischen den einzelnen Ländern und der „Flickenteppich“ an Vorschriften kritisiert worden, steht nun die Frage im Raum, ob es wirklich sein muss, dass für weniger stark betroffene Regionen die gleichen Regeln zu gelten haben wie für Gebiete, in denen es besonders viele Infektionen gibt.
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