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Pandemie: Mehr Tests oder "zweite Welle"? Darum sind die Corona-Infektionszahlen so hoch

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Mehr Tests oder "zweite Welle"? Darum sind die Corona-Infektionszahlen so hoch

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    Corona-Maskenpflicht-Kontrolle in Dresden: „Die nächsten Wochen werden kritisch“, warnen Experten.
    Corona-Maskenpflicht-Kontrolle in Dresden: „Die nächsten Wochen werden kritisch“, warnen Experten. Foto: Sebastian Kahnert, dpa

    Auf den ersten Blick wirkt die Corona-Kurve beängstigend: Der spitze Ausschlag der Neuinfektionszahlen hat jenen Wert vom Frühjahr übertroffen, als weite Teile Europas geschockt von den Bildern aus Bergamo in den Lockdown verfielen. Zwar verzeichnen die Krankenhäuser tatsächlich etwas mehr Corona-Patienten als in den Wochen zuvor. Doch vom Höhepunkt der Pandemie im April sind die Zustände weit entfernt. Wie aussagekräftig sind die Neuinfektionszahlen?

    „Es ist tatsächlich so, dass die Zahlen nicht direkt vergleichbar sind, weil jetzt viel mehr getestet wird“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik, Tim Friede. Der Professor leitet das Institut für Medizinische Statistik an der Universitätsmedizin Göttingen und weist darauf hin, dass auf dem Höhepunkt der Pandemie Anfang April rund 400.000 Menschen pro Woche getestet wurden und derzeit weit über eine Million.

    Corona: Zahl der Intensivpatienten verdreifacht

    Lag der Anteil der bestätigten Corona-Infektionen damals bei neun Prozent, waren es vergangene Woche 2,48 Prozent. Im Frühjahr seien aber vor allem Menschen mit eindeutigen Symptomen getestet worden. Nachdem nun vermehrt bis hin zu Bundesliga-Fußballern Menschen ohne Symptome getestet würden, sei es logisch, dass die Corona-Rate niedriger sei. „Verkompliziert wird das Ganze noch dadurch, dass sich die Testverfahren weiterentwickelt haben“, betont Friede.

    Die Zahl der Corona-Patienten in Intensivbehandlung verdreifachte sich seit Mitte September von 220 auf 769. „Hier muss man aber beachten, dass die Auslastung der Krankenhäuser der Infektionsentwicklung wegen des Krankheitsverlaufs um etwa zwei Wochen hinterherhinkt“, betont der Medizinstatistikexperte. Auch wenn die absoluten Zahlen der Corona-Kurve nicht vergleichbar seien, ähnele sich allerdings der Verlauf.„Es zeichnet sich ein gefährlicher exponentieller Anstieg ab“, warnt Friede. „Es ist damit zu rechnen, dass auch die Zahl der Intensivpatienten steigen wird.“

    Hat sich die Behandlung für Covid-19-Patienten verbessert?

    Der Göttinger Mediziner erwartet nicht, dass sich Fortschritte bei den Behandlungsmethoden in deutlich weniger Intensivfällen niederschlagen: „Man hat zwar in der Behandlung dazugelernt, aber das Tückische bleibt, dass sich der Zustand der betroffenen Corona-Patienten unerwartet rasant verschlechtert und man noch keine wirklich effektiven Therapien hat.“ Der Statistikexperte mahnt deshalb zur Vorsicht: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns alle zusammennehmen müssen, die nächsten Wochen werden kritisch“, sagt Friede. „Wenn man einen exponentiellen Anstieg stoppen kann, dann jetzt.“

    Für den Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes werden jedoch nun viele politische Versäumnisse sichtbar: „Besonders schwierig macht es, die Entwicklung zu interpretieren, dass die Positivraten nicht nach Altersgruppen ausgewiesen werden“, sagt Antes. „Deshalb besteht ein großer Teil vieler Interpretationen aus Spekulation. Aus diesem Grund halte ich viele der darauf fußenden Aussagen derzeit nicht für wissenschaftlich belegbar, sondern für hochspekulativ, weil leider immer noch nicht die Daten so erfasst werden, wie es sinnvoll wäre“, sagt Antes, der lange Zeit Mitglied der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut war. Er halte es daher für schwierig, auf Basis der aktuellen Zahlenlage politische Entscheidungen zu treffen.

    Corona: Statistikexperte warnt vor politischem Chaos

    „Die Ansteckungswahrscheinlichkeit steigt stark, wenn sich die Menschen mehr in geschlossenen Räumen statt draußen aufhalten“, betont Antes. „Es lässt sich nicht seriös vorhersagen, wie es weitergeht“, betont er. „Es könnte einen Dämpfungsfaktor geben, weil die Bevölkerung angesichts des Anstiegs in Alarmstimmung gerät. Das gegenwärtige Chaos der politischen Gegenmaßnahmen könnte genausogut dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit sinkt und die Menschen nachlässiger werden.“

    Wie gefährlich sind Großraumbüros in der Corona-Pandemie?

    Antes kritisiert die Gesundheitsminister in Bund und Ländern scharf: „Es wird systematisch versäumt, genaue Daten über Ansteckungsorte zu erfassen“, betont er. „Ich halte es für hoch problematisch, wenn Gesundheitspolitiker einzelne Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche oder islamische Familien wegen Hochzeitsfeiern an den Pranger stellen und stigmatisieren, aber gleichzeitig die einfachsten Maßnahmen nicht konsequent umgesetzt werden, wie beispielsweise der Infektionsschutz in Taxis oder Großraumbüros und öffentlichen Räumen.“ Schweizer Experten haben inzwischen Arbeitsstätten als Hauptinfektionsort noch vor Familienfeiern identifiziert.

    Befindet sich Deutschland also in der zweiten Welle? „Ich halte den Begriff der Wellen für falsch“, betont Antes. „Wellen kommen und gehen. Wir erleben aber eher einen Schwelbrand. Je nachdem, wie sich die Mehrheit der Bevölkerung verhält, hat man das Feuer an den jeweiligen Stellen unter Kontrollen oder es entstehen Großbrände wie im Wald von Kalifornien.“

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