Lothar Weber ist „nicht aufzufinden“, der Grünen-Politiker vom Ortsverband Leichlingen (Nordrhein-Westfalen) ist irgendwo im Internet verschollen. Dabei soll er jetzt seinen Teil zu einer echten politischen Premiere beitragen und beim ersten vollständig digitalen Parteitag in der Geschichte der Bundesrepublik sprechen. Doch die Videoverbindung kommt zunächst nicht zustande. Die Moderatorin in der fernen Berliner Parteizentrale muss einem anderen Delegierten den Vorzug geben. Dann taucht doch noch auf dem Bildschirm auf, zumindest die Hälfte seines Gesichts ist zu sehen. „Hallo?“, meldet er sich unsicher, „ich seh mich aber nicht.“
Nicht alles verläuft reibungslos beim virtuellen „Länderrat“ der Grünen am Samstagnachmittag. Thomas Janisch ist zwar zu sehen, mit prall gefüllten Bücherregalen im Hintergrund, doch er bleibt zunächst sprachlos. Dann ist der Delegierte vom Kreisverband Augsburg-Land doch zu hören. Er sei eben ein „technischer Knallfrosch“, das Problem sitze ja meistens vor dem Computer, sagt er. Um seine Partei dann zu mehr Kritik an den „Eingriffen in die Grundrechte“ in der Corona-Krise zu ermuntern.
Seit der Corona-Krise haben die Grünen viel Zuspruch verloren
Die Pandemie ist der Grund für die Verlegung des Parteitags ins Internet, die übliche Massenveranstaltung hätte ein zu großes Infektionsrisiko bedeutet. Seit Corona in Deutschland ausgebrochen ist und zu weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens geführt hat, haben die Grünen massiv an Zustimmung verloren. Von Umfragewerten um 25 Prozent der Wählergunst fiel die Partei um rund zehn Prozentpunkte.
Grüne Themen wie der Klimawandel rückten aus dem Blickfeld, die Problemlösungs- und Wirtschaftskompetenz der Partei werden von vielen Bürgern als schwach wahrgenommen. So scheinen die Träume von einem grünen Bundeskanzler für den Moment ausgeträumt.
Mit dem digitalen Parteitag wollen die Grünen das Ruder herumreißen und eigene Antworten auf die vielen Fragen zur Corona-Lage geben. Hatten die Grünen wochenlang im Wesentlichen die Corona-Maßnahmen der schwarz-roten Bundesregierung mitgetragen, wird der Ton nun zunehmend wieder oppositionell.
Grüne beschließen Konjunkturprogramm im Umfang von 100 Millionen Euro
Vorsitzende Annalena Baerbock etwa fordert in ihrer Auftaktrede, schnell wieder Besuche in Pflegeheimen zu ermöglichen und Kitas schnell wieder zu öffnen. Mit entsprechender Schutzausrüstung und begleitet von Corona-Tests sei dies zu verantworten. Die Situation von 13 Millionen Kindern in Deutschland habe bislang politisch keine Rolle gespielt, so Baerbock. Wenn die Kinder nicht betreut werden könnten, könnten auch viele Millionen Menschen kaum an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.
Kernstück des Leitantrags, den die Delegierten per digitaler Abstimmung beschließen, ist ein Konjunkturprogramm im Umfang von 100 Milliarden Euro noch in diesem Jahr. Neben der Wirtschaft soll es auch den Klimaschutz voranbringen. Vorgesehen ist mehr Geld für Bedürftige, ein Corona-Elterngeld und ein gemeinsamer Fonds der EU-Staaten von einer Billion Euro. Parteichef Robert Habeck sagt: „Wir reichen Unternehmen die Hand zur Rettung, aber wenn sie sie ergreifen, besiegeln wir damit den Pakt für Nachhaltigkeit.“ Die Mittel, die jetzt mobilisiert würden, müssten zum Umbau der Wirtschaftsweise auf Klimaneutralität verwendet werden.
Autoindustrie: Toni Hofreiter bekennt sich zu Hilfen in der Corona-Krise
Fraktionschef Toni Hofreiter bekennt sich zu Hilfen für die durch Corona darbende Autoindustrie. Doch dies müsse unter der Voraussetzung geschehen, dass die Hersteller den Klimaschutz voranbringen.
Trotz mancher kleiner technischer Pannen wertet Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner den ersten digitalen Parteitag als „gelungenes Experiment“. Es habe sich angefühlt wie ein normaler Parteitag, schon weil er den ganzen Tag kein Sonnenlicht gesehen habe, „auch wenn wir den Applaus vermisst haben“. Zusammen mit einigen Mitarbeitern hatte Kellner in den vergangenen Wochen die technischen Voraussetzungen geschaffen, damit 90 Delegierte aus dem Bundesgebiet per Video zugeschaltet werden können.
In der Berliner Parteizentrale sitzt dagegen nur eine Handvoll Funktionäre. Die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck tragen zum Auftakt demonstrativ Mundschutz, auf dem Boden markiert Klebeband die einzuhaltenden Infektionsschutz-Abstände. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt selbst gebackenen Kuchen mitgebracht, der allgemein gelobt wird.
Online-Parteitag der Grünen gibt Einblicke in die Wohnwelt der Politiker
Mehrere Stunden lang wechseln sich Reden der Parteigrößen mit den Beiträgen von Delegierten ab, die, wie immer bei der Partei, ausgelost werden. Und zwar so, dass die Zahl weiblicher und männlicher Redner gleich ist. Nebeneffekt des digitalen Formats sind Einblicke in die Wohnwelten grüner Politiker: Mal sind im Hintergrund weiß lackierte Altbautüren zu sehen, mal hippe Retro-Sessel und einmal eine Zimmerpflanze, die sich nach etwas Wasser zu sehnen scheint.
So richtig der Wurm drin ist nur bei Lothar Weber. Das Bild ruckelt, geduldig ermuntert ihn die Moderatorin, nun mit seinem Beitrag zu beginnen. „Solidarität ist in der Corona-Krise gefragt...“, setzt er an. Ein ums andere mal, dann bricht die Stimme wieder ab. Die Moderatorin hat schließlich Erbarmen, macht dem digitalen Gestöpsel ein Ende und blendet ihn aus: „Vielen Dank Lothar.“
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