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Oktoberfest: Worin liegt der Reiz der "echten" Wiesn?

Oktoberfest

Worin liegt der Reiz der "echten" Wiesn?

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    Das bunte Publikum trägt wohl zur Faszination Oktoberfest bei.
    Das bunte Publikum trägt wohl zur Faszination Oktoberfest bei. Foto: Christof Stache (AFP)

    Es ist wieder so weit. Auge um Auge, Krug um Krug. Alle wissen Bescheid: Hopfen und Malz erleichtern die Balz. Auf geht’s. O’zapft is’. Wiesn is’. Oans, zwoa, g’suffa!

    Das Phänomen selbst ist hinreichend oft und ausführlich beschrieben worden, ebenso seine Begleiterscheinungen. Die Masse. Der Rausch. Der Wahnsinn. Die Stadt im Ausnahmezustand. Eine entscheidende Frage allerdings wird zumeist ausgeklammert: Was ist das Besondere am Oktoberfest? Was gibt es nur in München und sonst nirgends?

    Enthemmung im Augustiner Zelt

    Also, auf geht’s. Zur Abwechslung mal wieder ins Augustiner. Hier wird das wahrscheinlich beste Bier Münchens ausgeschenkt: süffig, würzig, stark. Der Rest ist eher bescheiden: Die Kalbsbrust lag eindeutig zu lange im Herd. Die Kapelle kämpft sich mehr schlecht als recht durch die Musik- und Schlagergeschichte von Verdis Gefangenenchor bis zu Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“. Die Trink- und Flirtrituale nehmen ihren Lauf. Enthemmung allerorten. Lustig anzuschauen, aber halt auch recht trivial. Erkenntnisgewinn sechs Stunden und vier Maß später: Es ist so, wie es immer ist.

    "Giant pretzels" in New York

    Trotzdem spielen alle verrückt. Weltweit. Die Kollegen von der Zeitung Daily News in New York zum Beispiel trösten ihre Leser, die den Weg nach München zur Wiesn nicht schaffen, mit einer Liste von Alternativ-Veranstaltungen in ihrer Stadt. Die Liste ist lang. Zwölf Orte – „that are re-creating Octoberfest-Celebrations“ – werden genannt. Es gibt Riesenbrezen („giant pretzels“), Kalbshaxen („veal shank“) und Spanferkel („whole sucking pork“). Sogar Wettbewerbe im Maßkrugstemmen („mug holding competition“) werden ausgetragen. München darf sich geschmeichelt fühlen. Die Weltstadt am Hudson River verneigt sich vor der selbst ernannten Weltstadt mit Herz.

    In Tokio läuft es nicht viel anders. Dort werden, um den japanischen Wiesn-Fans die Wartezeit zu verkürzen, schon im Frühling und im Sommer so eine Art Oktoberfeste veranstaltet. Den Gästen wird volkstümliche Blasmusik („Oom-Pah-Music“) und bestes deutsches Bier versprochen. Und mit dem Wiesn-Flair haben sich offenbar auch einige Unsitten bis nach Fernost verbreitet. Zur Verhinderung des Maßkrug-Diebstahls erheben die Wirte in

    Australier "befreien ihre inneren Bayern"

    Den Bock freilich schießen sie in Australien ab. Ein Veranstalter von Oktoberfest-Events behauptet dort, dass er es von Mitte September bis Ende Oktober auf eine Million Besucher bringt, die sage und schreibe sieben Millionen Liter Bier trinken. Die Werbung klingt heftig: „Wir feiern, als würden wir die letzten Biere auf Erden trinken und wir gehen zurück zu unseren Wurzeln und befreien unseren inneren Bayern.“ Das heißt wohl so viel wie: Wir lassen unseren inneren Schweinehund raus. Aber gleich sieben Maß pro Besucher? Im Durchschnitt? Zum Vergleich: Auf der Wiesn liegt der Schnitt bei etwas über einer Maß pro Besucher.

    USA, Japan, Australien – die drei Beispiele zeigen, dass das Oktoberfest international eine Marke ist. Gefeiert wird überall. Aber das Original ist in München. Das hat sich offenbar irgendwann so ergeben. Stellt sich nur die Frage: warum? Was ist hier so besonders?

    Ein Bayer, der einfach nur auf die Wiesn geht und dort feststellt, dass es so ist, wie es immer ist, kriegt von der weltumspannenden Aufregung rund ums Oktoberfest in aller Regel nicht viel mit. Es liegt vermutlich in seiner bajuwarischen Natur, dass es ihm ziemlich wurscht ist. Er nimmt zwar zur Kenntnis, dass fast jeder fünfte Besucher aus dem Ausland kommt. Doch erst im direkten Kontakt mit den Gästen merkt er, dass es da eine ganze Reihe von Dingen gibt, die einem Fremden erklärt werden müssen.

    Ist die Wiesn wirklich das größte Volksfest der Welt?

    Mythos und Wahrheit liegen dabei oft sehr nahe beieinander. Wenn München sich damit rühmt, die Wiesn sei das größte Bierfest der Welt, dann wird zumeist verschwiegen, dass das in erster Linie an der Dauer des Fests liegt. Rund 6,4 Millionen Besucher – tatsächlich ein unerreichter Weltrekord – sind nur in 16 oder manchmal auch 18 Tagen zu schaffen. Geht es nach der durchschnittlichen Besucherzahl pro Tag, dann liegt die Wiesn nach aktuellen Ranglisten mit 370000 bis 400000 nur noch in der Spitzengruppe. Zum Hamburger Hafengeburtstag kommen täglich rund eine halbe Million Besucher. Die „größte Kirmes am Rhein“ (Düsseldorf) besuchen im Schnitt 430000 Gäste. Das „Züri Fäscht“ (Zürich) zählt sogar eine Million Besucher pro Tag. Und nimmt man die Fläche als Maßstab, dann liegt die Wiesn mit 310000 Quadratmeter hinter dem Canstatter Wasen in Stuttgart mit 420000 Quadratmeter auch nur auf Platz 2.

    Die Größe der Wiesn taugt also nur sehr eingeschränkt dazu, ihre Besonderheit zu erklären. In eine Masse eintauchen, singen, feiern, essen, trinken, flirten, die Sau rauslassen – das geht auch anderswo.

    Tradition liefert keine Erklärung

    Auch die Tradition liefert keine befriedigende Erklärung. Es gibt Volksfeste in Bayern, die sind viele Jahrhunderte älter als das Oktoberfest: Die „Michaeliskirchweih“ in Fürth (erstmals erwähnt im Jahr 1110), die „Pfingstmess’“ in Nördlingen (1219), der „Gillamoos“ in Abensberg (1313) oder die „Bartlmädult in Landshut“ (1339). Nun gut, keines dieser Feste begann mit einer königlichen Hochzeit in der aufstrebenden Hauptstadt eines jungen Königreichs (im Jahr 1810). So gut essen und trinken wie auf der Wiesn kann man dort aber allemal. Und billiger ist es obendrein.

    Ein Phänomen, das keiner erklären kann

    Bleibt offenbar nur noch die Wissenschaft, um den Hintergründen des Phänomens auf die Spur zu kommen. Die Münchner Psychologin Brigitte Veiz hat sich da viel Arbeit gemacht. In ihrem 2006 erschienen Buch „Das Oktoberfest – Masse, Rausch und Ritual“ fächert sie alle möglichen Aspekte auf, bemüht bedeutende Philosophen, Psychologen und Kulturtheoretiker und verwertet Interviews mit Besuchern und Beschäftigten. Das Buch ist eine wahre Fundgrube für alle, die sich ernsthafte Gedanken über das Oktoberfest machen. Obendrein ist es streckenweise äußerst unterhaltsam. Allerdings wird die Frage, was die Wiesn im Unterschied zu anderen Volksfesten zum Bierfest schlechthin gemacht hat oder macht, auch dort nicht wirklich abschließend beantwortet. Schon das erste Zitat aus einem der Interviews klingt wie eine Kapitulation: „Drum, des Oktoberfest woanders aufzubauen, wär kein Problem. Aber es wär net des Oktoberfest. Frag’ irgend an Menschen, des is’ a Phänomen, des koana erklär’n kann.“

    Am ehesten helfen vielleicht noch die Untersuchungen der Psychologin zu den Ritualen der Wiesn weiter. Der Maßkrug als Ritualgefäß, Dirndl und Lederhosen als Ritualgewand, die Wiesnlieder als rituelle Gesänge. All das ist vertraut. All das wiederholt sich. Zur gleichen Jahreszeit. Am selben Ort. In derselben Art und Weise.

    Wuchtige Symbolik und ausgeprägte Rituale

    Über den ritualisierten Auftakt „O’zapft is’“ berichten die Nachrichtenredaktionen bundesdeutscher Fernsehsender regelmäßig und ausnahmsweise sogar unter Verwendung von Dialekt. „Es ist angezapft“ würde sich nicht einmal die ansonsten stocksteife Hamburger Tagesschau sagen trauen. Dieses Jahr wurde auf allen Kanälen zur besten Sendezeit in aller Ernsthaftigkeit mitgeteilt, dass der neue Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter zum Anzapfen des ersten Fasses vier Schläge benötigt hat. Über den Nachrichtenwert für Niedersachsen oder Schleswig Holstein lässt sich streiten. Der Unterschied aber ist augenfällig: Die Eröffnung des Bremer Freimarkts oder der Cragner Kirmes in Herne – mit jeweils 4,4 Millionen Besuchern die zweitgrößten Volksfeste Deutschlands – wird nur von Regionalsendern wahrgenommen.

    Klar ist also: Nicht nur international, sondern auch innerhalb Deutschlands genießt das Oktoberfest mit Abstand die höchste Aufmerksamkeit. Nirgendwo sonst trifft das Publikum – ob aus Australien, Japan oder Mecklenburg-Vorpommern – auf so eine wuchtige Symbolik und so ausgeprägte Rituale wie in München. Nirgendwo sonst ist dieses bunt gemischte internationale Publikum gleichzeitig zum integralen Bestandteil des Festes geworden. Ein Afrikaner in Lederhose, eine Japanerin im Dirndl oder ein Oberlandler mit Gamsbart – all diese Bilder werden überall und automatisch der Wiesn zugeordnet. Sie ist zum Weltfest geworden.

    Den Bayern kann’s wurscht sein. Oder auch nicht. Prost.

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