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Ohne Atomenergie: Atomausstieg: Unverständnis für den deutschen Sonderweg

Ohne Atomenergie

Atomausstieg: Unverständnis für den deutschen Sonderweg

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    Sonnenaufgang hinter einem Atomkraftwerk. Symbolbild.
    Sonnenaufgang hinter einem Atomkraftwerk. Symbolbild. Foto: dpa

    Herbert Reul provoziert gerne. Zwei Mal im Jahr schlüpft der 59-jährige CDU-Politiker in die Rolle des wackeren Kämpfers gegen die Sommerzeit. Dann verschickt er Pressemeldungen und gibt Interviews, in denen er gegen den „Unfug“ Stellung bezieht. Nein, ein Blatt nimmt der Mann, der 25 Jahre lang in der Spitze der nordrhein-westfälischen Union die Strippen zog, auch heute nicht vor den Mund, wenn er im Europäischen Parlament als Vorsitzender des gewichtigen Industrie-Ausschusses auftritt.

    Und deshalb ist Reul auch einer der wenigen, die – Tschernobyl hin, Fukushima her – offen für die Atomkraft eintreten. „Ich bin für schnelle Antworten nicht zu haben“, schrieb er unmittelbar nach der Katastrophe in Japan bei Facebook. Die Seite „

    Dabei ist Reul keineswegs der Einzige, der über die deutsche Energiewende nur den Kopf schütteln kann. Vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy ist überliefert, dass er sich an die Stirn getippt habe, als er von dem Kurswechsel bei den Nachbarn gehört habe. Britische Europa-Abgeordnete nennen die Deutschen schlicht „verrückt“, und ein Mitglied der finnischen Regierung soll gesagt haben: „Wir werden genau hinschauen und den deutschen Untergang mit Interesse beobachten.“

    Quer durch Europa zieht sich diese Linie des blanken Unverständnisses, wohl auch des schieren Unglaubens an die Möglichkeit, ein ökonomisches Schwergewicht wie die Bundesrepublik könne seine Stärke behalten und gleichzeitig völlig ohne Atomstrom auskommen. Als Kommissionspräsident José Manuel Barroso zusammen mit der damaligen EU-Ratspräsidentin Angela Merkel 2007 die Grundzüge einer neuen Energiestrategie vorlegte, gehörte die Kernkraft zum Energie-Mix als fester Bestandteil dazu.

    Schließlich, so argumentiert man nicht nur in Brüssel, sei es ohne Strom aus den 140 Reaktoren in der EU nicht möglich, die Klimaschutzziele zu erreichen: Bis 2020 soll der CO2-Ausstoß um mindestens 20 Prozent gesenkt werden. Frankreich war sofort dabei. Wer fast 80 Prozent seiner Energie aus Kernkraft zieht, muss sich um den Klimaschutz keine Sorgen machen.

    Das sieht man auch in anderen Regierungshauptstädten so: Polen, wo man bisher etwa 90 Prozent seiner Elektrizität aus CO2-lastigen Kohlekraftwerken entnimmt, plant gerade den Bau eines neuen Meilers, um den Vorgaben zur Kohlendioxidreduzierung folgen zu können. „Wir wollen eine sichere Energieversorgung, die umweltschonend und bezahlbar ist“, argumentiert die Warschauer Regierung. „Und das geht eben nur mit Kernenergie.“

    Noch vor einem Jahr sah das auch die große Mehrheit der europäischen Bürger so. Bei einer Umfrage von Eurostat gaben 51 Prozent an, Atomenergie sorge für stabile Preise, 68 Prozent glaubten, dass man mit Atomstrom die Energieversorgung auch in Zukunft sichern könne. 59 Prozent waren der festen Überzeugung, dass man Kernkraftwerke sicher betreiben könne.

    Energiewende mit Skepsis beobachtet

    Energiekommissar Günther Oettinger steht auf dem gleichen Standpunkt. Dem früheren CDU-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg sagen zwar inzwischen selbst Grüne nach, er sei in Sachen Atomstrom vom Saulus zum Paulus geworden. Ein Irrtum: Erst vor wenigen Tagen hielt Oettinger den bundesrepublikanischen Umwelt-Aposteln im Europäischen Parlament vor, sie versuchten vom deutschen Standpunkt aus ganz Europa bestimmen zu wollen.

    Die Stresstests, so der Kommissar, seien zwar ein Instrument, um die Meiler sicherer zu machen. Nach einer Ausstiegsforderung sucht man in allen Kommissionspapieren der vergangenen Jahre jedoch vergebens.

    Mehr noch: Auch der deutsche Kommissar beobachtet die Berliner Energiewende mit Skepsis. Bis zum Herbst hat Oettinger der Bundesregierung Zeit gegeben, um zu belegen, wie sie beim Umstellen auf regenerative Energieträger für sichere Leitungen und ihren Beitrag im europäischen Energieverbund sorgen werde. Man liegt nicht falsch, dies als massive Skepsis zu interpretieren.

    Vor allem die Folgekosten bereiten Brüssel Sorgen. Dazu muss man wissen, dass das Barroso-Team auch schon einmal die kostenfreie Stromversorgung für Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, gefordert hatte. Nun fürchtet man, dass Energie zur unbezahlbaren Luxusware zumindest für die werden könnte, die nur wenig in der Tasche haben.

    Hinzu kommt, dass man sich um die nach wie vor hohe Abhängigkeit von Russland große Sorgen macht. In der Atom-Diskussion bleibt dies allerdings ein vorgeschobenes Argument, weil die 27 EU-Mitgliedstaaten von Moskau vorrangig Öl und Gas beziehen, die zum Heizen und Autofahren benutzt werden und dort auch gar nicht ersetzbar sind.

    „Ich kann nicht sehen, dass in Deutschland Autos, für die man Öl braucht, indem man Benzin und Diesel herstellt, mit kleinen Kernkraftwerken ausgestattet werden sollen“, sagte schon vor Jahren der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel. Er wie andere übergehen bei ihren heutigen Appellen für Hybrid-, Elektro- oder Wasserstoffmotoren aber gerne die Frage, woher genügend Strom kommen soll, um Akkus in Millionen Fahrzeugen aufzuladen oder Wasserstoff zu gewinnen, der dann in Ottomotoren verfeuert oder in Brennstoffzellen eingesetzt werden kann. Außer aus Atomkraftwerken.

    In Sachen Energieeffizienz und Preisniveau seien die Meiler „einfach unschlagbar“, argumentierten viele Europa-Abgeordnete deshalb auch Mitte dieses Monats, als im Straßburger Plenum eine Entschließung für mehr Sicherheit bei den Meilern samt der Option zum Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert wurde. Am Ende blieb von dem Papier nicht viel übrig.

    Vor allem die Möglichkeit eines Atomausstiegs wurde gestrichen. Was die deutschen Politiker forderten, fand bei den Kolleginnen und Kollegen aus ihren Nachbarländern keinen Beifall. „Mir hat bisher niemand glaubhaft belegen können, dass man eine starke Wirtschaft ohne Atomstrom am Leben erhalten und mit konkurrenzfähig preiswerter Energie versorgen kann“, sagte ein tschechischer Delegierter. Ein Italiener hörte zu und nickte heftig.

    Deutschen Ausstiegsbefürwortern unterstellt man inzwischen ganz offen eine „Mogelpackung“. Schließlich werde das Land auch künftig von der Kernkraft leben – über das europäische Verbundnetz. Deshalb sei die Wende kaum mehr als eine Art von „doppelter Moral“, die man übrigens auch deswegen nicht versteht, weil laut Statistik die deutschen Atommeiler die sichersten der Welt sind. Dass Berlin gerade die abschalten wolle, sei „unbegreiflich“. Ein hoher EU-Diplomat sagt offen: „Es gibt trotz aller Rechnungen, in die man Risiken und die  Atommüll-Frage eingerechnet hat, keine plausiblen Gründe, um aus der Kernenergie auszusteigen. Sie ist sicher, sie garantiert bezahlbare Energie und sie ist klimafreundlich. Sie hat somit alles, was wir brauchen.“

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