Es ist eine Niederlage für den von der Justiz der Korruption bezichtigten Bundeskanzler – aber nur eine vorläufige wohlgemerkt. Nach tagelangem Tauziehen und einer Pattsituation zwischen Sebastian Kurz’ „Neuer Volkspartei“ und seinem kleineren Regierungspartner, den Grünen, trat Sebastian Kurz am Samstagabend zur besten Sendezeit im ORF-TV vor die Kameras – und als Kanzler zurück. Nicht ohne seine Unschuld zu betonen. Das Wohl des Landes, die Stabilität, sei nun wichtiger als seine Person, sagte der 35-Jährige. Um nur einen Atemzug später mit unerschütterlich scheinendem Selbstbewusstsein zu unterstreichen, dass es ohne ihn nicht gehe.
Sebastian Kurz kam seiner Absetzung durch das Parlament zuvor
Er werde Chef der ÖVP bleiben und „ins Parlament zurückkehren“– obwohl er dort freilich eigentlich nie Zuhause war. Den Fraktionsvorsitz seiner türkisen Truppe will er übernehmen – ein ebenso einflussreicher Posten, mit nach wie vor umfangreichen Zugang zum Regierungsgeschehen. „Es geht nicht um mich, es geht um Österreich“, beteuerte Kurz auch auf Facebook. Es ist ein Rückzug auf Zeit, auch wenn Kurz das am Samstagabend so nicht ausspricht.
Und auch nicht aussprechen mochte: Denn als gesichert gilt, dass Kurz mit seinem Sieben-Minuten-Auftritt seiner Absetzung im Parlament zuvor gekommen ist. Die Grünen als Koalitionspartner hatten deutlich signalisiert, dass Kurz bei dem für Dienstag avisierten Misstrauensvotum zusammen mit der Opposition stürzen würden. Sie hatten Kurz die Regierungsfähigkeit abgesprochen. Es wäre bereits das zweite erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Kurz seit der Ibiza-Affäre 2019 gewesen. Es wäre wohl eine Niederlage geworden, von der er sich womöglich nicht mehr erholt hätte. Eine Schmach für den Mann, den die Konservativen in ganz Europa als aufstrebenden Jungpolitiker, der Wahlen gewinnen kann, gefeiert hatten. So hat sich der Taktiker noch einmal Luft verschafft, eine Verschnaufpause.
Mit Alexander Schallenberg soll ein enger Vertrauter von Kurz dessen Nachfolger werden
Denn klar ist: Alexander Schallenberg, der bisher Außenminister ist und die Nachfolge im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz antreten soll, ist ein enger Vertrauter von Kurz. Der 52-Jährige dürfte wohl alles andere als (s)eine eigene Linie fahren. Schallenberg bezeichnete sich als „türkiser Überzeugungstäter“. Der 1969 in Bern in der Schweiz geborene Spross einer aristokratischen Diplomatenfamilie fungierte in der Vergangenheit bereits als Sprecher der ÖVP-Außenministerin Ursula Plassnig. Ab 2013 im Außenministerium nahm die Karriere des Diplomaten und Juristen ordentlich Fahrt auf – unter Außenminister Sebastian Kurz. Zuletzt zog Schallenberg allerdings in seinem eigenen Hause Kritik auf sich: Dass er als Minister und quasi oberster Diplomat in der Frage der Aufnahme von Schutzsuchenden aus Afghanistan allzu aggressiv die türkis-politische Linie seines Förderers vertrat, stieß vielen sauer auf. Für Schlagzeilen sorgte auch Schallenbergs Ankündigung, er wolle „die Taliban an ihren Taten messen“.
Am Sonntag traf Schallenberg sowohl den grünen Vizekanzler Werner Kogler als auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu ersten Gesprächen über eine Regierungsübernahme. Die Opposition hat bereits klar gemacht, was sie davon hält: Sie spricht von der „Fortsetzung des ‚Systems Kurz’“; der pro-forma-Wechsel von Kurz ins Parlament sei „völlig ungenügend“, sagte etwa die Vorsitzende der Sozialdemokraten, Pamela Rendi-Wagner. Genau so sehen es auch die liberalen Neos und die FPÖ von Herbert Kickl. In der für Dienstag anberaumten Sondersitzung des Parlaments könnte es hoch hergehen. Unklar ist nicht etwa, was aus den verbliebenen ÖVP-Ministern wird.
Druck der ÖVP-Landeschefs auf Kurz wurde offenbar zu groß
Allgemein wird in Wien erwartet, dass Kurz als „Schattenkanzler“ aus dem Parlament heraus weiter die Linie der ÖVP in der Koalition mit den Grünen diktieren wird. Es sei quasi egal, wer unter ihm Kanzler werde, wird da schon mal süffisant ein legendäres Zitat des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß hervorgeholt. Auch jene engen Mitarbeiter von Kurz, die mit ihm in die Inseraten-Korruptionsaffäre verwickelt sind und die wie er ebenfalls der Untreue und der Bestechlichkeit beschuldigt werden, dürften weiter in ihren Positionen bleiben – und in seinem Sinne weiterarbeiten. Fürs erste aber sind Kurz und sein engstes Umfeld mit ihrem Vorhaben, trotz des massiven Drucks weiter im Kanzleramt zu bleiben, gescheitert. Fakt ist also zunächst: Auch die zweite Kanzlerschaft von Kurz bleibt von kurzer Dauer. Die erste endete nach zwei Jahren im Fiasko der Ibiza-Affäre, die zweite nun nach nur zehn Monaten. Dem massiven Druck der ÖVP-Landeschefs, dem Vernehmen nach vor allem von Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, hatte Kurz nicht mehr standhalten können.
Die in den staatsanwaltlichen Unterlagen zitierten Chatnachrichten von Kurz an seine Vertrauten dürften für die alten Granden in der Partei, vor allem auf Länderebene, zu viel gewesen sein: Kurz und sein Vertrauter Thomas Schmid beschimpften etwa Ex-ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner unflätig als „Arsch“, Kurz sprach davon, „ein Bundesland aufzuhetzen“. Er habe die Nachrichten „in der Hitze des Gefechts“ so formuliert und würde das in der Form wohl nicht mehr tun, aber auch er sei „nur ein Mensch“, versuchte sich Kurz am Samstag im ORF-TV zu rechtfertigen.
Kurz will seine rechtliche Immunität vom Parlament aufheben lassen
Zufrieden über den Rückzug sind vor allem die Landesverbände der Grünen. Sie waren es, die die ÖVP zu einem solchen Schritt gedrängt hatten, um die bisherige türkis-grüne Koalition fortsetzen zu können. Schließlich war auch der grüne Vizekanzler Kogler auf diese Linie eingeschwenkt, und hatte von der ÖVP einen „untadeligen Kanzler“ eingefordert. Offen bliebt, ob die Grünen als gesamte Partei diese Lösung mittragen. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter vor allem des linken Parteiflügels fürchten, dass Kurz den kleinen Koalitionspartner aus dem Parlament heraus politisch beschädigen könnte - und den Grünen dann erst recht den „schwarzen Neuwahl-Peter“ zuschieben könnte. Es sieht also nach einer Gratwanderung aus, für die Öko-Partei und ihren Chef Kogler.
Für Beobachter ist es wenig wahrscheinlich, dass die Kompromisslösung bis zu einer juristischen Entscheidung halten wird. Die könnte viele Monate, wenn nicht Jahre auf sich warten lassen. Vor Herbst 2022 rechnen Juristen wie der Verfassungsrechtler Heinz Mayer nicht mit einer Anklageerhebung gegen Kurz und die neun Beschuldigten. Die Immunität, die Kurz künftig als Abgeordneter genießen wird, dürfte den Ermittlungen der Korruptionsbehörde aber nicht wirklich im Wege stehen. Kurz selbst hatte angekündigt, dafür sorgen zu wollen, dass selbige vom Parlament aufgehoben wird. Zu Verzögerungen bei den Ermittlungen dürfte es dennoch kommen.