Sebastian Kurz lächelt. Man sieht ihm an, dass es ihn Kraft kostet. Er bemüht sich sichtlich, konzentriert und ruhig zu wirken. Aber die Fassade ist am Bröckeln. Am Donnerstagnachmittag tritt der österreichische Bundeskanzler, der bis vor kurzem noch von Konservativen in ganz Europa als Zukunftshoffnung, als Idol, als „Wunderkind“, als größtes politisches Talent gefeiert wurde, nach seinem Besuch bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen vor eine Traube von Medienvertretern. Im Hintergrund halten Demonstranten Schilder in die Kameras: „Gegen Korruption“ ist darauf zu lesen; „Tritt zurück!“, ruft ein Mann Kurz zu.
Der sonst so souverän Auftretende wirkt nun nervös, angespannt – aber er bleibt bei seiner Verteidigungsstrategie. Die Unschuldsvermutung müsse weiter gelten, er stehe weiter für eine Zusammenarbeit mit seinem Koalitionspartner, den Grünen, zur Verfügung, sagt er. Schließlich sei seine Partei – dieses Mal spricht er nicht fälschlicherweise von sich selbst – zweimal eindeutig vom Volk gewählt worden.
Noch steht die ÖVP hinter Kanzler Kurz
Sebastian Kurz will mit dem Kopf durch die Wand. Am späten Donnerstagabend fahren die schwarzen Limousinen der mächtigen ÖVP-Länderchefs vor der ÖVP-Parteiakademie vor, wo Kurz sich oft von seinem Wahlkampfteam auf Veranstaltungen feiern und anfeuern ließ. Ein Weiterbestehen der Regierung, sagt am späten Abend der ÖVP-Fraktionschef im Parlament, August Wöginger, gebe es nur mit Sebastian Kurz. Noch steht die Partei hinter ihrem Kanzler, dem „türkisen Erneuerer“.
Am Freitagmorgen ist wieder alles anders – die Ereignisse überschlagen sich. Während Sebastian Kurz um sein politisches Überleben kämpft, im Fernsehen eine Sondersendung die nächste jagt und darüber spekuliert wird, wie es nun weitergehen könnte, sitzen österreichische Journalistinnen und Journalisten vor ihren Laptops und schütteln die Köpfe. Ein neues, über 500 Seiten starkes Dokument der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), das auch unserer Redaktion vorliegt, bringt den Kanzler, seine Partei und ihre Verteidigungsstrategie unter noch massiveren Druck.
Neue Chats zeigen, wie Kurz und sein Vertrauter Thomas Schmid, der Ex-Chef der Staatsholding Österreichische Beteiligungs AG (ÖBAG), 2017 den damals noch amtierenden ÖVP-Vizekanzler und Finanzminister Reinhold Mitterlehner als „Arsch“ beschimpften. Weitere „Medien Kohle“ für willfährige Zeitungen und Boulevardblätter organisierten. Die Bundesländer „aufhetzten“ und ankündigten, den damaligen Chef des Instituts für Höhere Studien, Martin Kocher, „auf Linie“ zu bringen.
Es ist ein Sittenbild, das jenes aus den bisher bekannten, zigtausende Nachrichten umfassenden Chats von Thomas Schmid bei weitem in den Schatten stellt. Es sind Dokumente, die ein von Kurz und seinen Vertrauten geschaffenes System der Manipulation und der Täuschung nachzeichnen – ein System, mit dem der spätere Kanzler zuerst seine Partei übernahm, und sich danach an die Spitze der Republik katapultierte. Es sind Dokumente, die das vorläufige politische Ende des Sebastian Kurz und des von ihm geschaffenen Systems einläuten.
Der grüne Vizekanzler bestimmt über das Schicksal der Regierung
Wie es politisch in Österreich weitergeht, ist völlig offen. In der Hand hat es vor allem Werner Kogler, der grüne Vizekanzler. Am Freitag zementiert er die Position des kleineren Koalitionspartners weiter ein: Die Regierungsfähigkeit von Kurz sei nicht mehr gegeben. Dass es eine Fortführung der Koalition mit der ÖVP ohne Sebastian Kurz als Kanzler geben wird, wie es sich die Grünen erhofft hatten, ist aber unwahrscheinlich: Trotz der neu vorliegenden Dokumente halten die ÖVP-Granden, auch Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Tirols Landeschef Günther Platter, Kurz nach wie vor die Stange. Dass die ÖVP im Lichte der neuen Erkenntnisse vom Freitag doch noch zurückrudert und Kurz sich zurückziehen muss, gilt als unwahrscheinlich. Gut möglich ist nun, dass die Grünen dem Misstrauensantrag der Oppositionsparteien, der bei einer Sondersitzung am nächsten Dienstag eingebracht werden wird, zustimmen – und damit die Koalition beenden.
Danach könnte es eine Regierung aus SPÖ, den Grünen und den liberalen Neos geben, gestützt von der FPÖ von Herbert Kickl. Den extrem rechten Scharfmacher an der Spitze der Freiheitlichen wird wohl auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen ungern in einer neuen Regierung als Partner sehen wollen. Grüne, Sozialdemokraten und die liberalen Neos führen jedenfalls am Freitag intensive Gespräche, alle Seiten betonen, dass es jetzt gelte, „Verlässlichkeit, Vertrauen und Stabilität“ herzustellen. Österreich brauche einen „Neuanfang“, sagen etwa SPÖ und Neos.
Ebenfalls ein mögliches Szenario: Ein Expertenkabinett, wie es Van der Bellen nach der Ibiza-Affäre 2019 eingesetzt hatte. Auch kann der Bundespräsident das Parlament auflösen, was sofortige Neuwahlen bedeuten würde. Die aber, das betonen fast alle politischen Kräfte immer wieder, will aktuell niemand.
Am Freitagabend gibt Van der Bellen dann ein kurzes Statement ab: Von einer Staatskrise sei das Land weit entfernt, nun sei es an den Parteien, Gespräche zu führen. Die Verfassung werde für Stabilität sorgen, sagt er. Alles wartet also auf die Parlamentssondersitzung am Dienstag – und auf den Misstrauensantrag. Dann wird, überaus kurzfristig, eine Pressekonferenz angekündigt. Für 19.30 Uhr. Kurz werde sich äußern. Tritt er zurück? Im ORF spricht eine Journalistin um 19.33 Uhr von einer „ziemlichen Hauruck-Aktion“, Journalisten würden zur Pressekonferenz eilen.
Um 19.41 Uhr ist der Sender live. Das Statement des Kanzlers dauert keine drei Minuten, danach sagt ein ORF-Moderator, es lasse ihn ratlos zurück. Sebastian Kurz hält unerschütterlich an seiner Verteidigungslinie fest. Es gebe SMS-Nachrichten, die er „in der Hitze des Gefechts“ so formuliert habe, sagt er. Zum anderen gebe es strafrechtliche Vorwürfe gegen seine Person, „die schlicht und ergreifend falsch sind“. Er sei froh, dass er diese Vorwürfe in einem rechtsstaatlichen Verfahren widerlegen könne.
Sebastian Kurz will Regierung trotz Skandals fortsetzen
Neben Kurz: die österreichische Flagge, vor ihm Blätter mit Notizen. Und die Mikrofone der Fernsehsender. Jetzt bedankt sich der Kanzler für den Zuspruch, den er in den letzten Tagen habe erfahren dürfen. Er werde alles tun, um eine schnellstmögliche Aufklärung sicherzustellen. Schließlich kommt er an den Punkt, an den eine Rücktrittsankündigung gut passen würde. Kurz macht eine kleine Pause.
Und sagt: Er habe mit dem Team der ÖVP-Regierungsmitglieder beraten „und wir sind übereingekommen, dass wir selbstverständlich als überzeugte Demokraten akzeptieren, wenn es andere Mehrheiten im Parlament gibt“. Gleichzeitig sei festzuhalten, „dass wir (…) handlungsfähig und vor allem auch handlungswillig sind“. Er werde im ständigen Dialog mit dem Bundespräsidenten bleiben und alles tun, um Stabilität zu gewährleisten. Schnellen Schrittes verlässt er den Raum, auf Nachfragen geht er nicht ein.
Das „System Kurz“ – es hat Österreich in eine massive Regierungskrise gestürzt. Die nun vorliegenden Chatnachrichten untermauern die Vorwürfe und Ermittlungen der WKStA gegen Kurz und neun weitere Personen, darunter seine engsten Mitarbeiter, Medienverantwortliche und Vertraute, die nun als Beschuldigte geführt werden – wegen Untreue von Steuergeldern, Bestechlichkeit und Bestechung.
Im Zentrum der Ermittlungen steht ein System der „Inseratenkorruption“, das Thomas Schmid, Kurz’ jetziger Pressesprecher Johannes Frischmann und der Medienbeauftragte Gerald Fleischmann zusammen mit weiteren Beteiligten, wie dem damaligen Medienverantwortlichen im Finanzministerium, Johannes Pasquali, erfunden und umgesetzt haben sollen – und zwar im Auftrag von Sebastian Kurz, wie die Staatsanwaltschaft betont. Kurz sei es, dem dieses System ausschließlich zugutegekommen sei, er stehe im Zentrum.
Die Meinungsforscherin Sabine Beinschab, eine Mitarbeiterin der Ex-ÖVP-Familienministerin und Demoskopin Sophie Karmasin, soll auf Wunsch der Kurz-Truppe Umfragen zugunsten von Kurz „frisiert“ haben – Schmid, Fleischmann, Frischmann und auch Kurz sollen dabei der Meinungsforscherin Themen und Ergebnisse direkt diktiert haben. Ungezählte Chats, die sich bereits in der Hausdurchsuchungsanordnung vom Mittwoch finden, legen das nahe. Abgerechnet wurde den Vorwürfen zufolge mit Steuergeldern und über Scheinrechnungen an das Finanzministerium.
Die „frisierten“ Umfragen wiederum wurden offensichtlich im Boulevardblatt Österreich der Verleger Wolfgang und Helmuth Fellner platziert, im Gegenzug erhielten die Verleger Inserate des Finanzministeriums – und zwar in einer Höhe von 1,1 Millionen Euro. Auch die Fellner-Brüder werden der Untreue und der Bestechung beschuldigt.
Die neu vorliegenden Dokumente zeigen: Vor allem Thomas Schmid, von dem Kurz im parlamentarischen Ibiza-Untersuchungsausschuss noch behauptete, ihn kaum zu kennen, war Kurz’ Mann fürs Grobe und für alle Fälle. „Frischmann schrieb: ‚Ich schau gerade Fellner’. Schmid antwortete: ‚Propaganda. Genial ;-)) Unsere!!’ Laut Verdachtslage allerdings auch mit Geld der österreichischen Steuerzahler bezahlt“, ist in den WKStA-Unterlagen zu lesen.
Schockieren dürften die ÖVP-Landeshauptleute, die Kurz nach wie vor stützen, vor allem die Chats zwischen Schmid und Kurz über Ex-ÖVP-Vizekanzler Mitterlehner. „Diese alten Deppen sind so unerträglich (…) Du hast das alles erfolgreich geschafft und wir durften dabei mitarbeiten. Mitterlehner ist ein Linksdilettant und ein riesen Arsch!! Ich hasse ihn, Bussi Thomas“, schrieb Schmid. „Danke Thomas“, antwortete Kurz. „Super war, dass Spindi (gemeint ist Ex-ÖVP-Chef Michael Spindelegger, einer der Ziehväter von Kurz wie auch seiner Mitstreiter, die Red.) heute ausgerückt ist. Das stört den Arsch sicher am meisten …“ An anderer Stelle schrieb Kurz: „Bitte. Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“
Auch die Bearbeitung von einzelnen Journalisten wird durch die Chats deutlich. In einem schalen Licht erscheinen dabei Qualitäts- und Regionalzeitungen, erwähnt wurde mehrmals der Herausgeber und Chefredakteur der Presse, Rainer Nowak. „Rund um Parteitag spielen wir die Umfragen groß. Macht er uns“, freute sich Schmid über den Presse-Chef. „Großartig!!! Du bist super!“, bedankte sich Kurz. Die Chats sind letztlich auch Zeugnisse des Filzes zwischen politischer Macht und dem Journalismus in der Alpenrepublik.
Die Männer pflegen wohl bereits seit 2015 eine Freundschaft
Klar wird auch: Kurz und Schmid sind seit vielen Jahren nicht nur beruflich ein Team, sondern stehen sich persönlich nahe. „Aus den Chatverlaufen ergibt sich, dass Sebastian Kurz und Thomas Schmid seit vielen Jahren gut befreundet sind“, schreiben die Korruptionsermittler. Seit 2015 unternahmen Kurz – tatsächlich ein passionierter Wanderer – und Schmid zusammen regelmäßig Bergtouren. „Cooler Tag! Danke Jungs“, freute sich Kurz an einer Stelle.
Relevant ist das deshalb, weil Kurz, neben den nun von der Justiz erhobenen Vorwürfen, auch der Falschaussage vor dem Parlament beschuldigt wird – was in Österreich strafbar ist. In die Bestellung Schmids zum ÖBAG-Alleinvorstand, die dieser sich den Indizien nach selbst eingefädelt hatte – sei er nicht involviert gewesen, lediglich „informiert“, sagte Kurz damals vor dem Ausschuss. Die ÖBAG verwaltet die Beteiligungen der Republik Österreich an einigen börsennotierten Unternehmen – eine nicht ganz unbedeutende Institution. Dass Kurz Schmid „kaum kenne“, ist durch diese Dokumente wohl stark in Zweifel zu ziehen. Die Loyalität, die Schmid und auch Johannes Frischmann ihrem Idol Kurz entgegenbrachten, grenzt an Unterwürfigkeit: Er sehe sich als „Prätorianer“ für Kurz, schrieb Schmid. Frischmann verglich sich mit dem Orchester auf der Titanic, das ja bekanntlich bis zum Untergang des Schiffes spielte.
Nun scheint für die „Familie“, wie sich die eingeschworene Gemeinschaft um Kurz nannte, eine solche Schicksalsstunde gekommen. Der Eisberg, der die türkise Titanic zum Sinken brachte, ist jene Institution, die das „System Kurz“ nicht unter ihre Kontrolle bringen konnte: die unabhängige österreichische Justiz. (mit wida)