Die Flüchtlingsfrage ist so etwas wie die Sollbruchstelle der konservativ-grünen Regierung in Österreich. Mit der Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze wird die bisherige Harmonie in der Koalition nun früher auf die Probe gestellt als ihr lieb sein kann. Die ÖVP um Bundeskanzler Sebastian Kurz bleibt bei ihrer bekannt harten Position gegenüber Flüchtlingen. Die Grünen um Vizekanzler Werner Kogler halten an ihrer Tradition als Menschenrechtspartei fest und fordern Empathie für die Menschen ein, die in überfüllten Lagern festsitzen.
Konkret fordert Kogler, unterstützt vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, Frauen und Kinder in Österreich aufzunehmen. Die ÖVP lehnt das ab. Sie hat den Koalitionsvertrag auf ihrer Seite, der auf den Schutz der Außengrenzen setzt und die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen ablehnt. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Regierung diesen ersten inneren Konflikt aushält. Der Bundeskanzler bemüht sich um Gelassenheit: „Das ist keine Überraschung für uns. Wir haben stundenlang darüber verhandelt“, erklärt Kurz. Einen ersten Kompromiss fand die Koalition in der vergangenen Woche mit der Zusage von einer Million Euro Hilfe für die Menschen in Griechenlands Lagern und drei Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die syrische Region Idlib. Außerdem sollen Spenden der Bevölkerung für die ORF-Aktion „Nachbarn in Not“ von der Regierung verdoppelt werden. Das erscheint im Vergleich nicht besonders viel Geld zu sein, doch Österreichs Regierungen hielten sich bisher in der humanitären Hilfe sehr zurück.
Arbeitet die ÖVP in der Flüchtlingsfrage wieder mit der FPÖ zusammen?
Vom Inkrafttreten des sogenannten Krisenmechanismus für unlösbare Fälle, der im Regierungsprogramm festgeschrieben wurde, sei die Regierung, wie Kurz betont, weit entfernt. Da die Grünen in der Flüchtlingspolitik, die für sie bittersten Kompromisse eingehen mussten, haben beide Koalitionspartner nämlich festgelegt, wie sie vorgehen, sollte es hier zu unüberbrückbaren Differenzen kommen. Sowohl ÖVP als auch Grüne haben dann das Recht, mit einem Antrag direkt ins Parlament zu gehen, wenn sie im Ministerrat nicht die dafür erforderliche Einstimmigkeit erreichen. Im Ernstfall könnte das zum Beispiel heißen, dass sich die ÖVP mit der rechtspopulistischen FPÖ auf eine Vorgehensweise einigt – gegen die Stimmen der Grünen.
Einmal genutzt wäre dieser Mechanismus natürlich eine große Belastung für die weitere Arbeit der Koalition. Man kann deshalb davon ausgehen, dass weder ÖVP noch die Grünen leichtfertig damit umgehen werden. Hinzu kommt, dass dem Inkraftsetzen ein dreistufiger Prozess vorausgehen müsste. Zuerst müsste im „koalitionären Abstimmungsprozess“ versucht werden, zu einer Einigung zu kommen. Sollte das nicht gelingen, müsste der Koalitionsausschuss versuchen sich zu einigen. Zuletzt würden dann Kanzler und Vizekanzler nach einer Lösung suchen. Erst wenn auch die Chefs scheitern, könnte die Suche nach einer anderen Mehrheit im Parlament beginnen.
Flüchtlinge: Kogler trennt zwischen Amt und "Privatmeinung"
Doch obwohl in den sozialen Netzwerken eine Welle der Kritik an Kogler aufbrandet, weil es an Solidarität mit den Flüchtlingen fehle, hält seine Partei bislang ruhig und unterstützt Kogler.
Der Vizekanzler selbst, der bekannt ist für seine lockeren Sprüche, wirkt in diesen Tagen sehr kontrolliert. Bezeichnete er kürzlich noch die Haltung von Kurz zum EU-Budget indirekt als populistisch, trennt er in seinen Äußerungen zum Flüchtlingsthema mittlerweile streng zwischen seinem Amt und seiner „Privatmeinung“. Kurz honoriert diese Zurückhaltung: „Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Werner Kogler. Er ist Chef einer anderen Partei und hat dort andere Positionen. Das ist doch völlig normal“, sagte er am Sonntag in einem Fernsehinterview. Erneut warnte Kurz dabei mit markigen Worten vor Millionen Menschen, „die sich auf den Weg machen könnten, wenn sie den Eindruck haben, dass sie durchkommen“. Österreich sei vorbereitet, seine Grenze zu schützen, „falls es zu einem Grenzsturm kommt“. Wie gut die Koalition vorbereitet ist, wird sich erst zeigen.
Lesen Sie auch:
- unsere Reportage: Ortsbesuch an der türkisch-griechischen Grenze: „Daran darf man gar nicht denken!“
- unseren Kommentar: Deutschland hat dramatische Lage in Griechenland mitverschuldet
- unser Interview: SPD-Chefin Saskia Esken: „Wir müssen diese Kinder endlich da rausholen“
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.