„Wieso magst du mich nicht?“ Es ist ein Satz, der Helmut Brandstätter nicht loslässt. Die Frage an den langjährigen Chefredakteur und Herausgeber der österreichischen Tageszeitung Kurier, eines der auflagenstärksten Blätter des Landes, kam nicht von irgendwem. Sie kam von Sebastian Kurz, dem heutigen Bundeskanzler. Es sei ein Satz, sagt Brandstätter, der bezeichnend sei für Kurz’ Medienpolitik, sein Verhältnis zu Journalistinnen und Journalisten und sein Verständnis von der österreichischen Öffentlichkeit.
Ein Abend im Juni 2017, kurz vor den Nationalratswahlen. Der junge Spitzenkandidat der „Neuen Volkspartei“ ÖVP trifft sich unter vier Augen zum Essen mit dem damaligen Kurier-Chef. „Immer wieder ist er darauf zurückgekommen“, erinnert sich Brandstätter. „Er sagte: ‚Ich erwarte mir, dass du mich im Wahlkampf unterstützt.‘“ Als er deutlich gemacht habe, dass das auf keinen Fall seine Aufgabe sei, habe Kurz erwidert: „Es muss dir klar sein: Du bist mein Freund – oder mein Feind.“ Im Nachhinein sieht Brandstätter jenes Abendessen mit dem späteren Kanzler als einen Wendepunkt an. Damals habe ihn Kurz nicht nur in die Kategorie „Feind“ gesteckt, sondern auch beschlossen, ihn vom Chefredakteurssessel zu holen.
Brandstätter sitzt tiefenentspannt und mit Urlaubsbräune im Gesicht im Biergarten des Café Landtmann an der Wiener Ringstraße, als er von seinem Verhältnis zu Sebastian Kurz erzählt. Das berühmte Lokal ist Touristenmagnet und wichtiger Treffpunkt für alle, die sich auf dem politischen Parkett Wiens bewegen. Es befindet sich neben dem Burgtheater und in Sichtweite der Parteizentrale der Sozialdemokraten. Der mit 34 Jahren immer noch junge und unverändert machtbewusste Kanzler residiert nur wenige Schritte entfernt am Ballhausplatz.
Kurz und die Medien. Es ist ein angespanntes Verhältnis. Nicht wenige Beobachter, Kritiker und Oppositionspolitiker in Österreich sehen das Land unter Kurz auf dem Weg in Richtung „Orbanisierung“ – mit Viktor Orbán, dem autoritären ungarischen Premierminister, stehe erstmals ein EU-Ministerpräsident auf ihrer Liste der weltweit größten „Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit 2021“, vermerkte die renommierte Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen. Die Liste umfasst 37 Staats- und Regierungsoberhäupter, „die in besonders drastischer Weise die rücksichtslose Unterdrückung der Pressefreiheit verkörpern“.
Sebastian Kurz soll gefragt haben: „Wieso magst du mich nicht?“
Brandstätter erzählt, er sei nicht der einzige Chefredakteur gewesen, den Kurz gefragt habe: „Wieso magst du mich nicht?“ Er aber habe seinen Unwillen zur Loyalität mit seinem Job bezahlt, der Kurier habe offenbar „auf Linie“ gebracht werden müssen. Brandstätter, 1955 in Wien geboren, wurde im Herbst 2018 als Chefredakteur abbestellt, seine Stellvertreterin Martina Salomon, eine dezidierte Anhängerin von Kurz, übernahm. Und mit dem Ex-ORF-Mann Richard Grasl stieß ein weiterer Kurz-Getreuer zur Kurier-Chefredaktion.
Brandstätter wechselte daraufhin selbst in die Politik, ist heute für die liberalen Neos im Parlament – und einer der schärfsten Kritiker des „Systems Kurz“. Neben den aktuellen Attacken des Kanzlers und seiner Partei auf Justiz und Staatsanwaltschaften, den Korruptionsvorwürfen und Strafermittlungsverfahren sei es vor allem Kurz’ Wille, die Medien zu kontrollieren, der ihn „gefährlich“ mache, sagt Brandstätter. Auch er sieht Österreich auf dem Weg der „Orbanisierung“.
In der Tat scheinen Kurz und sein engster Machtzirkel eine ausgeklügelte Strategie der Einflussnahme auf österreichische Verlage, Redaktionen und Medienhäuser zu verfolgen. Nicht immer verlieren dabei missliebig gewordene Journalistinnen und Journalisten ihre Jobs. Die Methoden sind vielfältig und reichen von direkten Interventionen – bei Chefredakteuren, Ressortleitern oder Redakteuren – bis hin zu einem System, das in Deutschland nicht existiert, in Österreich aber als „Inseratenkorruption“ bekannt ist. Allein zwischen Januar und März 2021 gab das Kanzleramt laut der Medientransparenzseite „RTR“ 8,9 Millionen Euro für Inserate und PR aus. Das ist dreimal so viel wie im Vergleichszeitraum 2020.
Unangefochten an der Spitze der Anzeigen-Profiteure: die dem Kanzler stets wohlgesonnene Kronen Zeitung, dicht gefolgt von Österreich, der Zeitung des ebenfalls Kurz-loyalen Herausgebers Wolfgang Fellner. Die beiden Medienhäuser bilden die Basis von Kurz’ Kommunikationsmaschine. Nur in den seltensten Fällen wird dort geschrieben, was Kurz nicht lesen will.
Über die Anzeigen hat die Kurz-Regierung viele Zeitungen in der Hand
Durch die über die Inseraten-Politik geschaffene Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln hat die Kurz-Regierung auch viele der kleineren Blätter mehr oder minder direkt in der Hand. Stets droht den Redaktionen zumindest potenziell ein schmerzlicher Einnahmenausfall. Kritik an der Kurz-Regierung will da wohlüberlegt sein. Beobachter und Medienexperten sprechen von einer „Dynamik der Anpassung“.
Rund 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben im Kanzleramt im Blick, was wann und auf welche Weise berichtet wird. Auch in Deutschland kann Bundeskanzlerin Angela Merkel auf das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zugreifen, dessen Chef Regierungssprecher Steffen Seibert, ein früherer ZDF-Mann, ist. Auch dort wird die Berichterstattung ausgewertet. Und auch in Deutschland gibt es Hintergrundtreffen, in denen Politikerinnen und Politiker vertraulich mit Journalistinnen und Journalisten reden. Sie müssen sich bisweilen kritisieren lassen oder damit leben, dass Interviews auch einmal zurückgezogen werden.
Dass aber hochrangige Politiker oder deren Mitarbeiter plump und direkt Einfluss auf Medien, ihre Vertreter und Berichterstattung auszuüben versuchten, ist in den vergangenen Jahren nicht publik geworden. Fälle gab es in der Vergangenheit – sie wurden als Skandale thematisiert. Die Pressefreiheit ist grundgesetzlich geschützt. Und das Bundesverfassungsgericht betonte erst kürzlich die Bedeutung der Staatsferne des beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Aus Österreich sind andere Dinge zu hören. „Von Anfang an hat Kurz, auch persönlich, angerufen, wenn bei uns in Online-Beiträgen Fotos von ihm verwendet wurden, die er nicht für gut befand“, sagt Helmut Brandstätter. „Was ist das für ein Foto? Wieso verwendet ihr dieses und nicht jenes?“, habe es dann geheißen. Die Schnelligkeit, mit der die Anrufe aus dem Kanzleramt erfolgt seien, wertet er als Indiz für eine engmaschige Kontrolle. „Kaum war ein Beitrag online, klingelte schon das Telefon.“ Journalismus, das sei für Kurz die Verlängerung seiner eigenen Weltsicht, sagt der Ex-Chefredakteur. „Kurz will nichts anderes, als dass seine Aussagen, aber noch viel mehr seine Bilder verbreitet werden.“
Schön früh versuchte Sebastian Kurz, sich in Redaktionen Freunde zu machen
Seit Beginn seines politischen Aufstiegs versuchte Sebastian Kurz – „damals noch fast unterwürfig und immer mit Du-Wort“, sagt Brandstätter –, sich überall in den Redaktionen Freunde zu machen. Um ungünstige Fotos von sich zu vermeiden, umgab er sich von Anfang an mit eigenen Foto- und Kameraleuten, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten. Jede Begegnung, jeder noch so kleine Auftritt wird von ihnen bestmöglich ins Bild gerückt und sofort über seine reichweitenstarken Social-Media-Kanäle verbreitet.
„Zutritt nur für Kameraleute und Fotografen“, „Kameraschwenk und Fotomöglichkeit“ – diese und ähnliche Zusätze fehlen auch heute in keiner Terminankündigung des Kanzleramts. Kurz und seine Getreuen setzen zudem auf eigene Medien wie das Portal Exxpress. Es wird von der Ehefrau des finanzstarken Kurz-Spenders Alexander Schütz, Eva Hieblinger-Schütz, herausgegeben.
„Ist dort die sozialistische Tageszeitung Kurier?“ Mit diesen Worten, erzählt Brandstätter, habe sich einmal Kurz’ Medienbeauftragter und engster Berater, Gerald Fleischmann, bei einem Kurier-Redakteur am Telefon gemeldet. Wieder mal sei es um einen missliebigen Artikel gegangen. Erst als Brandstätter drohte, derartige Anrufe künftig wortwörtlich abzudrucken, sei Fleischmann vorsichtiger geworden. „Es ärgert Kurz und seinen innersten Zirkel, dass man ihn mit Orbán vergleicht“, sagt Brandstätter. Die Einschüchterungsversuche öffentlich zu machen, wie dies auch der Chefredakteur der Kleinen Zeitung, Hubert Patterer, getan habe, betrachtet er als die „einzige Chance auf Selbstverteidigung des österreichischen Journalismus“.
Was aber, wenn der Druck von innen kommt, aus der Redaktion? Gespräche mit Kurier-Journalisten, ehemaligen wie aktiven, lassen ein erschreckendes Bild entstehen. Unter Zusicherung von Anonymität sprechen sie überaus offen. „Irgendwann habe ich mich selbst erwischt beim vorauseilenden Gehorsam“, sagt einer von ihnen. ÖVP-Themen zu recherchieren sei zwar prinzipiell möglich gewesen – die Geschichte ins Blatt zu bekommen, aber immer schwieriger geworden.
Auch beim ORF wächst die Unruhe
„Einmal hat jemand aus der Redaktion eine Anfrage ans Bundeskanzleramt gestellt, eine ganz gewöhnliche Recherche.“ Nur Minuten später sei der Online-Verantwortliche Richard Grasl im Büro erschienen und habe nach dem Grund der Recherche gefragt. „Es hat massive Auswirkungen auf den journalistischen Alltag, wenn man nicht weiß, ob gewisse Recherchen gut für die eigene Karriere im Haus sind.“
Die Journalistinnen und Journalisten erzählen, eines Morgens im Jahr 2019 habe Harald Mahrer in der Redaktionskonferenz gestanden. Mahrer – Kurz-Vertrauter, Präsident des Wirtschaftsbundes der ÖVP, der Wirtschaftskammer Österreich und der Oesterreichischen Nationalbank – habe sich die Themen und Geschichten des Tages angehört. „Der Harald ist heute da“, habe ein Mitglied der Chefredaktion schlicht gesagt. Redaktionsgeheimnis? Fehlanzeige.
Nach seinem Abgang beim Kurier sei Brandstätter der Satz zugetragen worden: „Was im Kurier steht, weiß ich einen Tag vorher.“ Dass der Satz von Sebastian Kurz stammt, wurde Brandstätter glaubwürdig bestätigt.
Auch im wichtigsten und größten Medienunternehmen des Landes, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF, hat der Kanzler „seinen“ Mann an der Spitze. Roland Weißmann, zuvor ORF-Vize-Finanzdirektor, wurde im dafür zuständigen Gremium, dem Stiftungsrat, mit Zweidrittelmehrheit zum Generaldirektor bestellt. Der Stiftungsrat gliedert sich – ähnlich wie in Deutschland der ZDF-Fernsehrat oder die Rundfunkräte der ARD– in „Freundeskreise“. In Österreich sind das vor allem parteipolitische Interessengruppen. Jene der ÖVP hat eine deutliche Mehrheit.
Im Radiosender Ö1 fragt man sich: Ist die Unabhängigkeit noch sicher?
Die Räte der Grünen stimmten ebenfalls für Weißmann und erhalten im Gegenzug zwei für sie wichtige Direktoriums-Posten. Dass Weißmann vor der Abstimmung mehrmals – und im Beisein des Kurz-Vertrauten Gerald Fleischmann – bei Treffen des ÖVP-Freundeskreises gesichtet wurde, kommentierte der neue ORF-Chef nach der Wahl so: Austausch sei in einer Demokratie wichtig, Absprachen habe es nicht gegeben. Nicht nur die Oppositionsparteien bezeichneten die Wahl als Farce.
Im ORF-Radiosender Ö1, eine Bastion kritischer und hochqualitativer Berichterstattung, macht man sich nun Sorgen. Bisher war die Ö1-Führungsebene Garant für Unabhängigkeit, blockte Einflussnahme von außen stets erfolgreich ab und gab den Druck nicht an die Journalistinnen und Journalisten weiter. Im Mai 2022 soll die gesamte Redaktion in einen neu errichteten, zentralen Newsroom am Wiener Küniglberg ziehen.
„Die Frage ist nun: Wie wird dort die Führungsstruktur aussehen? Bleiben unsere Chefs oder gibt es neue Vorgesetzte?“, fragt sich ein ORF-Journalist, der ebenfalls anonym bleiben möchte. Dass diese mittlere Ebene halte, sei von zentraler Bedeutung für die unabhängige Arbeit der Redaktion. „Es herrscht schon jetzt starker Druck von der Kurz-Regierung. ‚Wir haben da was Neues, das müsst ihr spielen‘ – wenn man das nicht in den Beitrag nimmt, muss man sich rechtfertigen. Sie wollen, dass in den klassischen Medien dasselbe läuft wie auf ihren Facebook- und Instagram-Seiten. Du sollst Mikrofonständer sein.“
Für Brandstätter hat Kurz’ Vorgehen im ORF System. „Ein Teil der Taktik ist, ganz offensiv zu zeigen, dass die ,Neue Volkspartei‘ und Kurz die öffentliche Meinung beherrschen. Das wollen sie jeden Tag beweisen und zeigen. So wird den einzelnen Journalisten klar, woher der Wind weht – und was es bedeutet, sich kritisch zu positionieren.“ Der Moment, in dem ein Redakteur darüber nachdenke, ob er sich mit einer Recherche schaden könne, sei der Anfang vom Ende der Pressefreiheit. (mit wida)
Dieser Artikel ist erstmals am 17.08.2021 erschienen.