Unzureichend und unwirksam - die von CDU/CSU und SPD vereinbarten Korrekturen am Wahlrecht für die Bundestagswahl 2021 sind bei der Opposition auf scharfe Kritik gestoßen.
FDP, Grüne und Linke nannten sie am Mittwoch völlig ungeeignet, das Problem des ständig wachsenden Bundestags zu lösen. Auch Wissenschaftler wiesen darauf hin, dass die beiden vorgesehenen Einschnitte nur eine marginale Wirkung auf die Größe des Bundestags haben werden. Der Koalitionsausschuss hatte sich am Dienstag auf ein zweistufiges Vorgehen mit einer Art Übergangslösung für die Wahl 2021 und einer größeren Reform erst 2025 verständigt.
Für die Bundestagswahl in gut einem Jahr soll es demnach bei der Zahl von 299 Wahlkreisen bleiben. Überhangmandate einer Partei sollen teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden. Und beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Noch in dieser Wahlperiode soll nach dem Willen der großen Koalition eine Reformkommission aus Wissenschaftlern, Abgeordneten und weiteren Mitgliedern eingesetzt werden, die dann spätestens bis zum 30. Juni 2023 ein Ergebnis vorlegen soll.
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) zeigten sich erleichtert über die Einigung. "Jetzt können wir uns auf Politik konzentrieren und müssen nicht über das Politikmachen reden", sagte Scholz im ZDF-"Morgenmagazin". Kramp-Karrenbauer nannte das Ergebnis "durchaus beachtenswert". Die CSU geht davon aus, dass der Kompromiss bei der Bundestagswahl 2021 zu einer Dämpfungswirkung von etwa 20 Mandaten und 2025 von etwa 60 bis 80 Mandaten führen wird. Dies gelte auf Basis der Wahlergebnisse von 2017 wie auch im Zusammenhang mit aktuellen Umfrageergebnissen, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Letztlich hänge die Größe des Parlaments aber vom tatsächlichen Wahlergebnis ab.
Vernichtend fiel die Kritik der Opposition aus. FDP-Chef Christian Lindner nannte das Vorgehen der Koalition "vom Inhalt und vom Stil nicht akzeptabel". In der Sache sei der Beschluss "ein Nullum" - es sei nicht auszumachen, ob davon ein dämpfender Effekt auf die Größe des Bundestags ausgehe. "Die Beschlüsse der GroKo beseitigen die Gefahr eines XXL-Bundestags nicht", sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann. Hauptverlierer sei das Ansehen der Politik. "Hier wird nämlich eine wichtige Reform wieder verschleppt und vertagt."
Ähnlich fiel die Kritik der Grünen aus: Der Erste Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann sprach von einem "Armutszeugnis" der großen Koalition. "Für diesen Vorschlag haben Union und SPD also sieben Jahre gebraucht. Er löst das Problem nicht und unterstreicht die Handlungsunfähigkeit von Union und SPD in Sachen Wahlrecht", sagte Haßelmann. "Diese Übergangslösung ist unambitioniert und kraftlos und wird ein Anwachsen des Bundestages nicht verhinderten."
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Linken-Fraktion, Jan Korte, erklärte: "Bei der Wahlrechtsreform läuft es so, wie es meistens läuft in der großen Koalition: im Endeffekt wirkungslos, bei Vorteilen für die CDU/CSU oder ihre Klientel."
Deutliche Kritik kam auch von der AfD. Ihr Wahlrechtsexperte Albrecht Glaser nannte den Koalitionsbeschluss "in mehrfacher Hinsicht widersinnig" und erklärte: "Es sieht alles nach einem faulen Politikerkompromiss aus, der mehr Probleme aufwirft als löst."
Unterstützung erhielten die Kritiker von Wahlrechtsexperten aus der Wissenschaft. "Die dämpfende Wirkung der beiden Bremsmechanismen, die die Koalition einziehen will, ist wirklich sehr gering", sagte der Stuttgarter Mathematik-Professor Christian Hesse der Deutschen Presse-Agentur. Ausgehend vom Wahlergebnis 2017 hätten sie zur Folge, dass der Bundestag heute statt 709 etwa 690 Sitze hätte.
"Das sind Marginalien, die vielleicht etwas dämpfen werden", sagte auch der Wahlforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung zu den zwei Stellschrauben, an denen die Koalitionsparteien drehen wollen. "Aber das Risiko einer unkalkulierbaren Vergrößerung des Bundestags bleibt."
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