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Breisgau: Neuer Missbrauchsfall: Staufen versteht die Welt nicht mehr

Breisgau

Neuer Missbrauchsfall: Staufen versteht die Welt nicht mehr

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    Oben thront die Burgruine, und unten fragen sich die Menschen aus Staufen, wann endlich wieder Ruhe einkehrt in ihre Kleinstadt.
    Oben thront die Burgruine, und unten fragen sich die Menschen aus Staufen, wann endlich wieder Ruhe einkehrt in ihre Kleinstadt. Foto: Patrick Seeger, dpa (Archiv)

    Die Eisverkäuferin in der „Kalten Sophie“ winkt sofort ab. Sie will nichts sagen zu diesem neuen schrecklichen Missbrauchsfall, der die kleine Stadt Staufen einmal mehr in ein schlechtes Licht rückt. In der 8000-Seelen-Kommune bei Freiburg wussten sie schon Wochen, bevor die Öffentlichkeit von dem Verbrechen erfuhr, dass wieder Reporter auftauchen und unangenehme Fragen stellen würden. Fotos? Namen? Nein, das wollen die meisten hier nicht. Denn diesmal kennen viele den Tatverdächtigen.

    Seit Ende Februar sitzt der Mann in Untersuchungshaft. Er heißt Christian und sein Nachname beginnt mit einem L. Exakt wie jener Mann aus Staufen, der sich im vergangenen Jahr als Haupttäter vor dem Landgericht Freiburg für den jahrelangen Missbrauch eines damals neunjährigen Jungen verantworten musste. Er hatte ihn gemeinsam mit dessen Mutter vergewaltigt und über das Darknet, einen verborgenen Teil des Internets, an pädophile Männer für das Ausleben ihrer Fantasien „verkauft“. Die Mutter und ihr Lebensgefährte wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

    Der Prozess um den Kindesmissbrauch in Staufen bei Freiburg wurde 2018 im Landgericht Freiburg verhandelt.
    Der Prozess um den Kindesmissbrauch in Staufen bei Freiburg wurde 2018 im Landgericht Freiburg verhandelt. Foto: Patrick Seeger, dpa (Archiv)

    Der Fall hatte die ganze Republik erschüttert. Der Mann ist ein Monster, sagten damals viele. Gekannt hat ihn aber so gut wie niemand. Er war ein Zugezogener. Nicht so jener Christian L., der nun im Fokus der Ermittlungen der Freiburger Staatsanwaltschaft steht. Im Gegenteil: In der historischen Altstadt kennt ihn fast jeder. Die Ermittler werfen dem 41-Jährigen, der Betreuer einer evangelischen Pfadfindergruppe war, teilweise schweren sexuellen Missbrauch von mindestens vier Jungen vor. Er soll die Taten zwischen 2009 und 2018 verübt haben, die Rede ist von insgesamt mehr als 400 Fällen.

    Staufener beschreiben Verdächtigen als "netten Typen von nebenan"

    Die Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Die Übergriffe hielten teils über Jahre an. „Je nach Nähe zu den einzelnen Geschädigten kam es zu mehreren Übergriffen pro Woche“, sagt Staatsanwältin Nicola Nowak. Und Chefermittler Mathias Kaiser sagte im Mai, als die Öffentlichkeit über den Fall informiert wurde: „Er hat sich die Kinder gezielt ausgesucht.“ Bis heute seien sie schwer traumatisiert. Und: Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es weitere Opfer gibt.

    Dabei beschreiben die Staufener den Verdächtigen als den netten Typen von nebenan. Blond, sportlich, höflich, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Die Dame aus dem kleinen Modegeschäft weiß auch gleich, um wen es geht: „Na klar, den kenne ich vom Sehen“, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust: „Der hat hier um die Ecke gearbeitet.“ Ein sympathischer Mann sei er. „Was für ein Drama, für beide Seiten.“

    Sie meint damit, dass es schrecklich sei, was den Kindern widerfahren ist. Aber eben auch, dass jemand solche Neigungen habe und diese nicht einfach ablegen könne.

    Was sie sagt, spiegelt eine Grundstimmung in der Stadt wider: Das Ringen um Fassung, dass einer aus ihrer Mitte zu so etwas fähig sein soll. Ulrich Mücke arbeitet in Staufen. Er mag die Stadt und identifiziert sich mit ihr, auch wenn er nicht hier lebt. „Ich hoffe, dass die Leute das trennen können“, sagt er und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. Nachdenklich bläst er den Rauch in die Luft. „Schwarze Schafe gibt es überall“, fügt er nach kurzer Pause hinzu, „aber gleich zwei solcher Fälle in einer so kleinen Stadt, das ist schon schockierend.“

    Christian L. stand bereits 2004 wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht

    So sieht es auch die Frau, die den kleinen Handwerker-Kunstmarkt betreibt, direkt gegenüber des Fahrradladens, in dem Christian L. gearbeitet hat. Im nahe gelegenen Café Faller wird gerade Mittagstisch serviert, drei Frauen stochern in ihren Salaten herum, während sie sich über dies und das unterhalten. Kinder rennen in der Fußgängerzone am kleinen Wasserlauf entlang und verfolgen die Fahrt ihrer Papierbötchen. Touristen machen Fotos von der Burgruine, die vor stechend blauem Himmel oberhalb der Stadt thront. Niederländer, Amerikaner, Franzosen, aber auch deutsche Urlauber; die meisten werden womöglich keine Ahnung davon haben, was sich hier abgespielt hat.

    Der Verdächtige soll einige seiner späteren Opfer in der Pfadfindergruppe kennengelernt haben, andere stammten aus seinem privaten Umfeld. Auch wenn die Staufener früher als die breite Öffentlichkeit von den Vorwürfen wussten, weil Polizeibeamte die Kontakte des Mannes in der Stadt abgeklappert hatten, erfuhren sie erst aus den Medien von Christian L.s Vorgeschichte. Beispielsweise, dass es schon im Jahr 2004 einen Prozess gegen ihn gegeben hatte – wegen sexuellen Missbrauchs. Weil das Gericht allerdings nicht zweifelsfrei seine Schuld feststellen konnte, wurde er schließlich 2007 freigesprochen.

    Das wusste auch die evangelische Landeskirche Baden. Sie hat den Mann trotzdem beschäftigt – bis 2013. Die nun bekannt gewordenen Missbrauchsvorwürfe reichen bis ins Jahr 2009 zurück. Heute wie damals beruft sich die Kirche auf den Freispruch und die damit verbundene Unschuldsvermutung. Auf Anfrage verweist die Pressestelle der Kirche in Karlsruhe auf eine Mitteilung. Darin heißt es: „Die Landeskirche wird jetzt die Umstände überprüfen, wie es seinerzeit zur Anstellung durch den der Kirchengemeinde Staufen nahe stehenden Timotheus-Verein kam.“

    Vor mehreren Jahren hat die Landeskirche ein eigenes Konzept zum Schutz von Kindern erstellt. Es heißt „Alle Achtung“ und beinhaltet eine Selbstverpflichtung, die alle, die in Einrichtungen der Kirche arbeiten, unterzeichnen sollen. Dem voraus geht eine verpflichtende Schulung. Als Christian L. dort tätig war, gab es diese noch nicht. Der damals zuständige Pfarrer ist später in die Gemeinde Sinsheim und dann nach Auskunft des dortigen Pfarramts in den Schuldienst gewechselt. Auf eine schriftliche Anfrage unserer Redaktion reagierte er nicht.

    Der heutige Pfarrer der Gemeinde in Staufen heißt Theo Breisacher. Er ist nun zwangsläufig betroffen. Die Stelle war lange unbesetzt. Im vergangenen November trat Breisacher seinen Dienst an – und zugleich ein „Erbe, das nicht sehr angenehm war“, wie er sagt.

    Das Treffen findet in einem Besprechungsraum im Pfarramt statt. Breisacher bittet in die Sofaecke und zündet eine Kerze an, bevor er sich setzt. An der Wand steht ein volles Bücherregal, daneben hängt ein Kreuz. „Es macht mich betroffen, dass jemand den Vertrauensraum der Kirche missbraucht, das belastet mich schon“, sagt er. Breisacher hat selbst zwei Kinder, sie sind schon erwachsen. Er sagt, es gebe Dinge, „von denen kann man sich nicht abgrenzen“. Ein wenig fürchtet er nun um das Ansehen der Kirche und dass eine Art Kultur des Misstrauens entsteht. Eine Atmosphäre, in der Eltern anderen Erwachsenen nicht mehr über den Weg trauen, wenn diese ihre Kinder betreuen, sei es in der Freizeit oder beim Sport. „Wir dürfen jetzt nicht in Aktionismus verfallen“, warnt er.

    Christian L. hat er nicht gekannt. „Aber es sagen alle, dass er nett und kontaktfreudig war.“ Sinngemäß habe er gehört, dass niemand auch nur ansatzweise einen Verdacht geschöpft habe. Breisacher redet mit Bedacht. Die Kirche hat die Order ausgegeben, dass er nichts unabgestimmt sagen darf. Die Polizei sei hier mehrmals gewesen, erzählt er dann doch. Es sei um „technische Dinge“ gegangen, zum damaligen Arbeitsverhältnis. Dafür hat der Pfarrer auch Verständnis.

    Staufen: Ende des Monats will die Staatsanwaltschaft Anklage erheben

    Breisacher ärgert sich über etwas anderes. Die Polizei hat noch einen zweiten Verdachtsfall, ebenfalls ein Betreuer der Pfadfindergruppe. Bei dem 27-Jährigen geht es um Missbrauch eines Mädchens in zwei Fällen, aber es wird noch ermittelt und der Mann ist auf freiem Fuß. „Diese beiden Dinge in einem Atemzug zu nennen, finde ich nicht richtig“, sagt er. Und dass außerdem alle wieder von „dem ersten Staufener Missbrauchsfall“ reden: „Diese Vorfälle haben rein gar nichts miteinander zu tun“, findet der Pfarrer. Das sagte auch der Freiburger Kripochef Peter Egetemaier bei einer Pressekonferenz Anfang Mai.

    Ein Geschäftsinhaber im Herzen Staufens, der ungenannt bleiben will, kennt wiederum den Tatverdächtigen in dem neuen Fall. Er selbst hat vier Kinder, sein Jüngster ist erst sieben. Auch der Kleine hat eine Pfadfindergruppe besucht, wenn auch nicht die Gruppe, die der Verdächtige leitete. Als der Geschäftsinhaber von der Sache erfuhr, sagt er, seien ihm zwei Dinge durch den Kopf gegangen: „Nicht schon wieder“, und: „Hoffentlich ist es nicht so schlimm.“ Der Familienvater macht sich auch selbst Vorwürfe: „Ich hätte doch etwas merken müssen. Aber man sieht es den Menschen eben nicht an.“

    Schließlich: ein früherer Kollege von Christian L. aus dem Fahrradladen. Er sei kompetent gewesen, immer freundlich zu den Kunden, erzählt der Mann. Christian L. verdächtig in einem Fall von Kindesmissbrauch? Das kann nicht sein, dachte der Kollege damals. „Ich dachte, er würde nach zwei Tagen wieder da sein.“ Es kam anders.

    Mitglieder der Initiative «Aktiv gegen Missbrauch» halten mit Bannern vor dem Landgericht in Freiburg eine Mahnwache.
    Mitglieder der Initiative «Aktiv gegen Missbrauch» halten mit Bannern vor dem Landgericht in Freiburg eine Mahnwache. Foto: Patrick Seeger, dpa (Archiv)

    Wieder also ein Missbrauchsfall in der Kleinstadt Staufen. Die Einwohner haben die Nase voll von der ständigen Aufmerksamkeit, den Negativschlagzeilen und, ja – auch den Journalisten, die durch die Stadt schwirren. Die Vorfälle veränderten das Denken und Verhalten der Menschen hier, sagt der Geschäftsinhaber: „Auch wenn man es gar nicht will.“

    Da werde einer, der den Sohn des Nachbarn einlädt, mit zum Flohmarkt zu kommen, für einen Sekundenbruchteil verdächtigt. Beim Kinderzirkus, wo die Kleinen Salti lernen, müssen die Turnlehrer plötzlich die Eltern darauf vorbereiten, dass sie die Kinder anfassen müssen, um sie vor Verletzungen bei den Übungen zu schützen. „Das tut dieser Stadt alles andere als gut.“

    Die Staatsanwaltschaft Freiburg hofft, Ende des Monats Anklage erheben zu können. Vielleicht bekommen die Staufener, wenn erst mal der Prozess begonnen hat, ein paar Antworten auf ihre vielen Fragen.

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