Nach der Neonazi-Mordserie wollen die Ermittler nun mit Hilfe der Bevölkerung ein lückenloses Bild des jahrelang untergetauchten Terror-Trios und seines Umfeldes zeichnen. Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt (BKA) starteten am Donnerstag in Karlsruhe eine Plakataktion , um Tipps zu Aufenthaltsorten, Fahrzeugen und Kontaktleuten der Zwickauer Zelle zu bekommen. In dem Fall ermitteln inzwischen 420 Polizisten.
Das von Generalbundesanwalt Harald Range und BKA-Präsident Jörg Ziercke vorgestellte Plakat zeigt Fotos der mutmaßlichen Zwickauer Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sowie das Täterfahrzeug im Fall der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin. Range appellierte ausdrücklich auch an womöglich ausstiegewillige Rechtsextreme, sich mit Hinweisen an die Behörden zu wenden. In solchen Fällen gebe es "natürlich die Möglichkeit der Anonymität". Ziercke unterstrich, von großer Bedeutung für die Ermittlungen seien weitere "Erkenntnisse über die räumliche Bewegung der Mörderbande".
Böhnhardt und Mundlos waren nach dem Banküberfall tot aufgefunden wurden
Böhnhardt und Mundlos waren am 4. November nach einem gescheiterten Banküberfall in Eisenach tot aufgefunden worden. Im Zusammenhang mit der rechtsterroristischen Verbrechensserie sitzen derzeit vier Verdächtige in U-Haft. Neben der 36-jährigen Zschäpe als mutmaßlicher Mitbegründerin der Terrorzelle sind zwei Verdächtige als Unterstützer der Gruppe inhaftiert, außerdem der frühere NPD-Funktionär Ralf W. wegen des Verdacht der Beihilfe zu sechs Morden und einem Mordversuch. Ziercke zeigte sich überzeugt, dass bei den künftigen Ermittlungen noch "weitere Beziehungen zur NPD" entdeckt werden.
Die Zwickauer Terrorzelle - Chronologie der Ereignisse
Freitag, 4. November: Am Vormittag überfallen zwei Männer eine Bank im thüringischen Eisenach und fliehen. Während der Fahndung stoßen Polizisten auf zwei Leichen in einem Wohnmobil. Beamte hatten Hinweise erhalten, dass ein Caravan bei dem Überfall eine Rolle gespielt haben könnte.
Samstag, 5. November: Ermittler untersuchen die Schusswaffen, die in dem Wohnmobil gefunden wurden.
Montag, 7. November: Unter den Pistolen im Wohnwagen sind die Dienstwaffen der im April 2007 in Heilbronn getöteten Polizistin Michele Kiesewetter und ihres schwer verletzten Kollegen. Die später identifizierten Männer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, deren Leichen entdeckt wurden, sollen den Banküberfall begangen haben. Sie sollen zusammen mit einer Frau in einer Wohnung in Zwickau gelebt haben, die wenige Stunden nach dem Banküberfall explodiert war. Nach der Frau, Beate Zschäpe, wird gefahndet.
Dienstag, 8. November: Die bundesweit gesuchte Beate Zschäpe stellt sich der Polizei in Jena. Spekulationen kommen auf, dass die mutmaßlichen Bankräuber eine Verbindung in die Neonazi-Szene gehabt haben könnten. Sie und die verdächtige Frau sollen in Thüringen als rechtsextreme Bombenbauer in Erscheinung getreten sein.
Mittwoch, 9. November: Zschäpe sitzt in U-Haft und schweigt. Nach Aussage von Thüringens Innenminister Jörg Geibert hatten die Männer bis 1998 Verbindungen zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz - danach jedoch nicht mehr. Polizei und Staatsanwaltschaft in Sachsen machen die Frau zunächst nur für die Explosion des Wohnhauses in Zwickau verantwortlich.
Donnerstag, 10. November: In den Trümmern des abgebrannten Hauses in Zwickau werden weitere Schusswaffen gefunden.
Freitag, 11. November: Es ist die spektakuläre Wende in dem Fall: Unter den Waffen ist die Pistole, mit der zwischen 2000 und 2006 neun Kleinunternehmer erschossen wurden - Türken, ein Grieche und Deutsche mit Migrationshintergrund. Außerdem entdecken Fahnder rechtsextreme Propaganda-Videos. Diese beziehen sich auf eine Gruppierung mit dem Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und enthalten Bezüge zur Mordserie. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernimmt die Ermittlungen.
Sonntag, 13. November: Die Bundesanwaltschaft geht erstmals ausdrücklich von Rechtsterrorismus aus. Der Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Zschäpe wegen des dringenden Tatverdachts «der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung». In Lauenau bei Hannover wird ein mutmaßlicher Komplize festgenommen. Holger G. soll dem Neonazi-Trio 2007 seinen Führerschein und vor etwa vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben. Die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall ist unklar. Politiker fragen, warum die Rechtsextremen, die unter Beobachtung standen und schon 1998 in Jena als Bombenbauer auffielen, so lange unbehelligt blieben.
Montag, 14. November: Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger sagt, die Strukturen des Verfassungsschutzes sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Ihre Frage: «Was mich wirklich umtreibt, ist: Gibt es ein fester gefügtes rechtsextremistisches Netzwerk in Deutschland als bisher angenommen wurde?».
Donnerstag, 17. November: Der hessische Verfassungsschutz dementiert einen Bericht, ein 2006 suspendierter Mitarbeiter habe einen V-Mann beim rechtsextremen Thüringer Heimatschutz geführt. Der Verfassungsschützer war 2006 in einem Internetcafé in Kassel gewesen, kurz bevor dort die tödlichen Schüsse auf den türkischstämmigen Betreiber fielen.
Freitag, 18. November: Die Terrorzelle ist möglicherweise größer als bisher bekannt. Ermittler haben zwei weitere Personen im Visier. Sie sollen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe unterstützt haben. Nach mehreren Ermittlungspannen in der Vergangenheit wollen Bund und Länder mit besseren Strukturen auf den über Jahre unentdeckten rechtsextremistischen Terror reagieren.
Dienstag, 29. November: Fahnder nehmen den früheren NPD-Funktionär Ralf W. fest. Er soll ein weiterer mutmaßlicher Unterstützer der terroristischen Vereinigung «Nationalistischer Untergrund» (NSU) sein.
Dem BKA-Präsidenten zufolge wird derzeit intensiv gegen einen möglichen weiteren Unterstützer der Zelle ermittelt. Noch nicht entschieden sei, ob gegen ihn ein "Haftbefehl erreicht werden kann". Range sprach von einer "guten Handvoll weiterer Personen" im Visier der Ermittler.
Mordserie an neun Migranten geht auf Konto der Terrorzelle
Auf das Konto der 1998 untergetauchten und zuletzt in Zwickau wohnenden Zellenmitglieder geht den Ermittlungen zufolge die bundesweite Mordserie an neun Migranten in den Jahren 2000 bis 2006. Außerdem steht die Terrorgruppe im Verdacht, 2007 in Heilbronn die Polizistin erschossen und deren Kollegen schwer verletzt zu haben. Die Zelle soll zudem 2001 und 2004 zwei Sprengstoffanschläge mit insgesamt 23 Verletzten in Köln verübt haben. Ziercke zufolge beging die Gruppe offenbar zwischen 1999 und 2011 auch mindestens 14 bewaffnete Banküberfälle, bei denen sie mehr als 600.000 Euro erbeutete.
Nach Angaben des BKA-Präsidenten werten die Ermittler im Zusammenhang mit der Verbrechensserie derzeit rund 2500 Beweisstücke aus. Die erste Sichtung dieser Asservate lasse auf "umfangreiche Tatvorbeitungshandlungen" schließen. Die Gruppe habe "nichts dem Zufall überlassen" wollen. Die Terroristen hätten sich offenbar nur im Untergrund halten können, weil sie "alles genau geplant" hätten.
Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) räumte mit Blick auf den Fahndungsaufruf zwar ein, dass es angesichts der Jahre zurückliegenden Taten einen "erheblichen Zeitverzug" gebe. Am Rande eines G-6-Innenministertreffens in Paris nannte es Friedrich aber sinnvoll, "alle Möglichkeiten zu nutzen", um aufzuklären und "die Wahrheit aufzudecken". Da die handelnden Personen auch Kontakte hatten, sei es sicher gut, solche Aufrufe jetzt zu starten. afp