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Nationalsozialismus: Vor 75 Jahren: Als in Deutschland die Synagogen brannten

Nationalsozialismus

Vor 75 Jahren: Als in Deutschland die Synagogen brannten

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    Dieses Tor mit dem zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ mussten die Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau passieren. Die Reichskristallnacht gilt als Beginn des Holocausts.
    Dieses Tor mit dem zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ mussten die Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau passieren. Die Reichskristallnacht gilt als Beginn des Holocausts. Foto: Fotos: Fred Schöllhorn

    Es ist schon Abend, als Charlotte am 9. November 1938 an der Hand ihres Vaters auf die Straße tritt. Dieser Gang durch die Münchner Innenstadt wird sich in ihr Gedächtnis einbrennen, so beängstigend ist das, was die Sechsjährige sieht: Verwüstete Geschäfte, eine brennende Synagoge und Juden, die gedemütigt und verhaftet werden. Später werden die Überfälle rund um diesen Tag als Novemberpogrome oder - nach Diktion der Nazis - als Reichskristallnacht in die Geschichtsbücher eingehen.

    Auch das jüdische Mädchen und sein Vater sind an diesem Abend in Gefahr. Sie sind unterwegs in einen Vorort, um sich in Sicherheit zu bringen. Noch 75 Jahre später kämpft die heute 81 Jahre alte Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland von 2006-2010, dafür, dass diese schlimmen Ereignisse nicht vergessen werden. Schließlich markiert das Datum den Aufbruch zu einer bis dato unvorstellbaren Katastrophe: zum Holocaust.

    Am Anfang standen die Schüsse auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath in Paris, abgefeuert am 7. November von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan. Schon die Nachricht des Attentats löste erste Übergriffe aus. Als vom Rath dann zwei Tage später starb, waren die Folgen für die Juden verheerend.

    An diesem 9. November feierten die Spitzen der NSDAP im Alten Rathaussaal in München, auch mit Reichskanzler Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels. Sie gedachten des Hitlerputsches 15 Jahre zuvor. Goebbels verstand sofort, wie er das Attentat ausnutzen konnte. Zwar rief er nicht direkt zu Übergriffen auf, doch den anwesenden Führern von Partei und SA war klar, was er mit seiner antisemitischen Hetzrede bewirken wollte.

    "Mal den Dingen seinen Lauf lassen", schrieb Goebbels

    "Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen", notierte Goebbels später in seinem Tagebuch und schilderte seine Anweisungen an die Polizei und die Parteiführer, die mitfeierten. "Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln." Die Devise: "Mal den Dingen ihren Lauf lassen." Also kein Eingreifen von

    SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich schob später ein Telegram hinterher mit der Bitte, deutsches Leben und Eigentum zu verschonen. "zB. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist", heißt es darin.

    Organisierte Angriffe durch Schlägertrupps

    Der Zorn des Volkes über den feigen Mord habe sich hier entladen, propagierten die Nazis. Doch Historiker sprechen von organisierten Angriffen durch Schlägertrupps der Partei und der SA - ohne Uniform, um als normale Bürger zu gelten. Überall im Deutschen Reich brennen Synagogen, werden Schaufenster zertrümmert, Geschäfte geplündert. Tausende Juden werden gedemütigt, verhaftet und sogar ermordet. Viele werden in den Tod getrieben, rund 30.000 werden anschließend in Konzentrationslager verschleppt.

    "Das hat die Judenverfolgung massiv beschleunigt", sagt der Leiter des Zentrums für Holocauststudien in München, Frank Bajohr. Die Weichen für Vernichtung und systematische Arisierung wurden seit 1933 gestellt durch Gesetze ebenso wie durch die Propaganda, die Juden als böse und minderwertig brandmarkte. Nach Ansicht Bajohrs waren Pogrome schon vor dem 9. November 1938 weit verbreitet. So hatte es etwa in Wien im Frühjahr zuvor Übergriffe mit erschreckenden Ausmaßen gegeben.

    Historiker: Tod des Botschaftsangehörigen nur Vorwand

    "Es hätte nicht ernsthaft des Todes von Herrn vom Rath bedurft, um die Pogrome in Gang zu setzen", meint der Historiker. "Die Nationalsozialisten befinden sich in einer Position, in der sie glauben, sie können es sich leisten", stellt Bajohr in der Rückschau fest. Zwar habe es weltweit viel Mitleid mit den Juden gegeben. Aber nur wenige Länder seien bereit gewesen, jüdische Auswanderer in größerer Zahl aufzunehmen. "Das wird von den Nationalsozialisten registriert und höhnisch kommentiert", berichtet Bajohr.

    Hitler auf dem Höhepunkt seines Ruhms - so sieht es auch Oliver Hochkeppel vom künftigen NS-Dokumentationszentrum in München. "Es war zu einer Zeit, in der die Zustimmung zum Regime so groß war wie vorher und nachher nie wieder", erläutert der Historiker. "Hitler ist von außenpolitischem Erfolg zu Erfolg geeilt, war auf dem Höhepunkt seines charismatischen Wegs."

    Noch immer viele Abläufe unklar

    Noch sind viele Abläufe an diesem 9. November unklar. Der Journalist und Buchautor Armin Fuhrer glaubt, dass der Gesandte gar nicht so schwer verletzt war, dass er geopfert wurde, um einen Märtyrer zu haben. "Der Verdacht liegt nahe, dass Hitler seinem Leibarzt den Befehl gab, vom Rath sterben zu lassen und nach außen hin so zu tun, als habe man ihn nicht retten können", schreibt Fuhrer in seiner kürzlich erschienenen Biografie "Herschel".

    "1938 brodelte es in der NSDAP, weil viele einfache Parteimitglieder und SA-Leute endlich gegen die Juden losschlagen wollten", lautet seine Begründung. "Goebbels und Hitler wussten, dass sie auf den Unmut reagieren mussten, da war dieses Attentat ein Geschenk des Himmels."

    Eine These, mit der sich viele Historiker allerdings nicht anfreunden können, weil sie ihnen zu ungesichert erscheint. Wie es wirklich war, spielt nach Ansicht vieler auch kaum eine Rolle. Die Pogrome wären ohnehin gekommen - früher oder später, meinen sie. Vielleicht, meint Hochkeppel, wäre es dann nicht der 9. November gewesen, sondern ein anderer Tag.

    Juden lebten schon zuvor in Angst

    Schon lange war das Leben der Juden gekennzeichnet von staatlicher Willkür und beständiger Angst, wie ein Tagebucheintrag von Victor Klemperer etwa vom 2. Oktober 1938 zeigt: "Ich glaubte: Heute abend der Krieg. Vielleicht unser Tod in einem Pogrom."

    Auch für Charlotte Knobloch war der 9. November nur eine Steigerung der Ausgrenzung, die sie ohnehin tagtäglich als Kind erlebte. "Die sogenannte Reichskristallnacht hat mich mit der Wucht ihrer Ereignisse nicht überrascht", berichtet sie und fügt hinzu: "Die gesamte, enorme Dimension, die beinahe vollständige Vernichtung des europäischen Judentums - das habe ich allerdings erst nach der Befreiung 1945 erkannt."  Cordula Dieckmann, dpa

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