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Nachruf: Marcel Reich-Ranicki: Im Namen des Lesers

Nachruf

Marcel Reich-Ranicki: Im Namen des Lesers

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    Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist am Mittwoch im Alter von 93 Jahren gestorben.
    Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist am Mittwoch im Alter von 93 Jahren gestorben. Foto: Oliver Berg, dpa (Archiv)

    Er sprach von Büchern, als wären es Wesen. Geschöpfe, die er liebte, mit denen er lebte und litt und stritt. Da waren missratene Wesen, wunderbare Wesen, langweilige Wesen, unwürdige Wesen, verkannte Wesen, großartige Wesen, ewige Wesen. Sie bevölkerten, ja erschufen die Welt des Marcel Reich-Ranicki. Es war eine literarische Welt, in der es Lob und Tadel, aber niemals Gleichgültigkeit und nicht immer Gerechtigkeit gab.

    Marcel Reich-Ranicki prägte literarische Debatte

    Das war Marcel Reich-Ranicki

    Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren.

    Sein Vater David war Kaufmann und polnischer Jude, seine Mutter Helene war deutsche Jüdin.

    Reich ging 1929 nach dem Konkurs der väterlichen Fabrik mit der Familie nach Berlin.

    Nach dem Abitur wurde Marcel Reich-Ranicki 1938 nach Polen ausgewiesen.

    Aus dem Warschauer Ghetto konnte er 1943 zusammen mit seiner Frau Teofila («Tosia») fliehen.

    Beide überlebten den Holocaust im Untergrund.

    Nach dem Krieg war «MRR» Mitglied des polnischen Geheimdienstes und zeitweise polnischer Generalkonsul in London, wo er auch den Namen «Ranicki» zusätzlich annahm.

    Er kehrte im Herbst 1949 nach Warschau zurück. Wenig später wurde er aus der Kommunistischen Partei wegen «ideologischer Fremdheit» ausgeschlossen.

    Im Jahr 1958 ließ sich Reich-Ranicki für immer in Deutschland nieder. In Hamburg war er von 1960 an Literaturkritiker der Wochenzeitung «Die Zeit».

    1973 ging er mit Joachim Fest zur «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und leitete dort bis 1988 die Literatur-Redaktion.

    Bis zuletzt arbeitete er jedoch weiter für die «FAZ» als Kritiker und Redakteur der «Frankfurter Anthologie».

    Mit seiner um wenige Monate älteren Frau «Tosia», die ihren Mann im Warschauer Ghetto kennenlernte, war «MRR» rund sieben Jahrzehnte verheiratet.

    Das Paar lebte seit mehr als 30 Jahren in Frankfurt. Der Tod seiner Frau im April 2011 war ein schwerer Schlag für Reich-Ranicki.

    Der einzige Sohn des Paares Andrew lehrt Mathematik an der Universität Edinburgh in Schottland.

    Marcel Reich-Ranicki prägte als Kritiker und Intellektueller die literarischen Debatten der Nachkriegszeit.

    Seine Autobiografie mit der Schilderung der Flucht aus dem Warschauer Ghetto wurde zum Bestseller.

    Marcel Reich-Ranicki starb am 18. September 2013 im Alter von 93 Jahren nach längerer Krankheit in Frankfurt.

    Schriftsteller, Dichter und Autoren wussten, wer in dieser Welt der wortmächtigste Gebieter war. Wer sich da sorgte, wer mahnte, anspornte, gurrte und giftete.   Marcel Reich-Ranicki – Leser, Kritiker, Literaturpapst. Über Jahrzehnte hinweg prägte MRR mit Leidenschaft, Lesehunger, Humor und einem charmanten Selbstbewusstsein die literarische Debatte in der Bundesrepublik. Stetig und vernehmbar als Kritiker im Feuilleton großer Zeitungen (erst die Zeit, dann die Frankfurter Allgemeine) – und später, phänomenal und wirkungsmächtig, als eine Art Zirkusdirektor des „Literarischen Quartetts“ im Fernsehen. Literatur und das Reden über Literatur wurden zu einem öffentlichen Schauspiel, das Krimiquoten erreichte. Der Verriss war spannend wie ein Mord, die Hymne schön wie ein Happy End.

    Ein Literaturkritiker, der Thomas Mann zitiert und Frauen runterputzt, sich am eigenen Leseglück berauscht und Langeweile nicht duldet: So vital und lustvoll diskutierte man bis dahin nur Fußballspiele oder Bundestagswahlen. Aber Bücher? Reich-Ranicki wurde gegen alle Logik mit seinem Fernsehformat „Literarisches Quartett“ ein Unterhaltungskünstler. Er redete über Literatur nicht im Jargon der Germanisten, sondern wie ein Liebhaber, ein Neugieriger, ein Oheim.

    Sowohl als auch? Nicht mit ihm. „Herrrlich“ oder „grrrässlich“ und nichts dazwischen! MRR war geschult in den Debatten der Gruppe 47, der Keimzelle einer neuen deutschen Nachkriegsliteratur und ihres Betriebs. In diesen Zirkeln war Reich-Ranicki der Streitbare, der Entschiedene. Autoren wie Martin Walser und Günter Grass, Kollegen wie Sigrid Löffler und Thomas Gottschalk haben es erfahren. Etwa 400 Bücher wurden im ZDF besprochen – sein in 14 Jahren auf dem Bildschirm aufgeführter charakteristischer Tonfall und sein Zeigefinger wurden Teil des kollektiven Gedächtnisses. Und wer MRR parodierte, wurde auch beim Faschingsball des TSV Vestenbergsgreuth verstanden und bejubelt.

    2008 lehnte Reich-Ranicki den Deutschen Fernsehpreis ab

    Der Fernsehstar blieb unabhängig, sein Blick unbestechlich. 2008 stieß Reich-Ranicki die TV-Nation vor den Kopf, als er den Deutschen Fernsehpreis ablehnte – und zwar live bei Gottschalk unter Hinweis auf den „täglichen Blödsinn“.

    Hinter der wortgewandten, geistreichen öffentlichen Figur, die eine Marke wurde (mit der Gefahr von Schlagseite Richtung Karikatur), verbarg sich eine Persönlichkeit, deren Lebensgeschichte, so abgedroschen das klingen mag, Romanstoff ist. Niemand hätte dieses Leben besser beschreiben können als MRR selbst, der mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ einen Bestseller schrieb. Es ist auch die Erzählung von einem Mann, der vom Außenseiter zum Star, vom Autodidakten zum mehrfachen Ehrendoktor (unter anderem Augsburg) aufstieg.

    Reich-Ranicki musste viele Katastrophen durchstehen

    Auf was für ein Leben blickte der betagte und brillante Kritiker zurück! In einem Interview zu seinem 90. Geburtstag sagte er: „Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben!“ Lange hielt dieses Leben nur Katastrophen für Reich-Ranicki bereit. Der Junge, der am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel zur Welt kam, musste machtlos mit ansehen, wie sein Vater, ein polnischer Jude und musischer Mensch, als Kaufmann scheiterte und mit seinem Unternehmen Konkurs anmelden musste.

    Die Eltern, die sich um die Zukunft ihres Sohnes sorgten, brachten ihn in Berlin unter. „Ich kam nach Deutschland, ich wurde in kurzer Zeit, in sehr kurzer Zeit der beste Deutschschüler. Und natürlich war ich als der glänzende Deutschschüler in der Schule ein Außenseiter“, sagte er. Hinzu kamen die Repressionen der Nationalsozialisten, wegen derer er von vielen Veranstaltungen ausgeschlossen wurde. Marcel Reich-Ranicki machte das, was er immer schon getan hatte, er las, er las sehr viel. Und als Thomas Mann sich als Schriftsteller von den Nationalsozialisten distanzierte, war einer der Leitsterne an Reich-Ranickis literarischem Firmament gefunden.

    Dann wurde das Leben von Reich-Ranicki endgültig mit der antisemitischen Brutalität Deutschlands konfrontiert. Sein Antrag auf Immatrikulation wurde wegen seiner Abstammung abgelehnt, kurze Zeit später wurde er gemeinsam mit 17000 weiteren staatenlosen und polnischen Juden nach Polen abgeschoben. Ein Jahr später kam der Krieg, mit ihm wieder die Nazis.

    Mit seiner Frau floh Reich-Ranicki aus dem Warschauer Getto

    Im Warschauer Getto lernte Reich-Ranicki seine spätere Frau Teofila (mit der er bis zu deren Tod 2011 zusammenlebte) kennen – an dem Tag, an dem sich ihr Vater aus Scham und Verzweiflung im Getto erhängte. Reich-Ranicki wurde von seiner Mutter zu Teofila geschickt, damit er sich um die junge Frau kümmere. Zwei Jahre später folgte die Heirat im Getto, im Februar 1943 gelang dem Paar die Flucht.

    Reich-Ranickis Eltern wurden in den Gaskammern von Treblinka ermordet, sein Bruder im Arbeitslager erschossen, seiner Schwester war die Flucht nach London bereits 1939 gelungen. Auch nach der Befreiung Polens durch die Sowjetarmee hielten die großen Schicksalsläufe Reich-Ranickis Leben in eisernem Griff. Er arbeitete von 1944 an für die polnische kommunistische Geheimpolizei UB, erst in Schlesien, später in

    Reich-Ranicki wurde Deutschlands unterhaltsamster Kritiker

    Wieder musste Reich-Ranicki einen beruflichen Anfang finden – unausgebildet. Nun wandte er sich der Bücherwelt zu, er wurde Lektor für deutsche Literatur in einem großen Warschauer Verlag, später arbeitete er für den polnischen Rundfunk. Während einer Studienfahrt 1958 in die Bundesrepublik Deutschland blieb Reich-Ranicki in Frankfurt am Main. „In Warschau war ich ein vollkommener Außenseiter. Es war klar: In Polen habe ich nichts zu suchen. Ich musste aus Polen raus“, sagte Reich-Ranicki in einem Gespräch mit der Zeit. Und kurze Zeit später begann diese folgenreiche Geschichte, in der Reich-Ranicki zu Deutschlands bekanntestem, einflussreichstem und gleichzeitig auch unterhaltsamstem Kritiker aufstieg.

    Der belesene, eloquente Rezensent, der Schriftsteller erst hoch- und dann niederschreiben konnte (wie Martin Walser oder auch Ulla Hahn) oder kraft seiner populären Autorität unscheinbare Wesen zu Bestsellern aufzumotzen vermochte (Javier Marias, Cees Noteboom, Judith Hermann) – dieser Papst und Pförtner des Literaturbetriebs war eine Instanz ohne Glorienschein und Attitüde der Unnahbarkeit.

    Unterhaltsamkeit war für Marcel Reich-Ranicki bei einem Buch das Wichtigste

    Die literarischen Maßstäbe dieses streitbaren Kritikers sind an Klassikern wie Goethe, Dostojewski, Brecht und Mann geschult. Reich-Ranicki, der noch bis ins hohe Alter wöchentlich in einer Kolumne der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung launig und knapp Leserfragen beantwortete, hatte einen klaren Kompass: Ein Buch darf nicht langweilen (vor allem ihn, MRR, nicht), es braucht Handlung. Unterhaltsamkeit ist keine Schande.

    In einem Interview zu seinem 90. Geburtstag sagte der Kritiker auf die Frage nach seinen Wünschen: „Etwas Leben. Noch etwas Leben.“ Es wurden noch drei Jahre, in denen MRR sich einige Male öffentlich zu Wort meldete – und Gehör fand. Am 27. Januar 2012 hielt er im Bundestag im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus eine Rede über die Judenverfolgung; er erzählte von einem Tag im Warschauer Getto. Dem Tag, an dem dort der Massenmord begann. Marcel Reich-Ranicki überlebte diesen Tag mehr als sieben Jahrzehnte. Er starb gestern in Frankfurt am Main.

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