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Nachruf: "Ihre Ausreise...": Ein halber Satz machte Genscher zur Legende

Nachruf

"Ihre Ausreise...": Ein halber Satz machte Genscher zur Legende

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    Er hatte kaum zu sprechen begonnen, da ging seine Botschaft schon im frenetischen Jubel der Menschen unter. Ein halber Satz machte Hans-Dietrich Genscher weltberühmt.
    Er hatte kaum zu sprechen begonnen, da ging seine Botschaft schon im frenetischen Jubel der Menschen unter. Ein halber Satz machte Hans-Dietrich Genscher weltberühmt. Foto: Victoria Bonn-Meuser (dpa)

    Er hat kaum zu sprechen begonnen, da geht seine frohe Botschaft schon im frenetischen Jubel der Menschen unter. Hans-Dietrich Genscher, der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, steht am Abend des 30. September 1989 auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, in der sich hunderte Flüchtlinge aus der DDR schon seit Wochen unter chaotischen Umständen aufhalten. Er hat eine gute Nachricht.

    Die Ausreise der Menschen in die Bundesrepublik ist nach zähen Verhandlungen mit dem DDR-Außenministerium beschlossene Sache. Doch der Minister, in der Dunkelheit auf dem Balkon kaum zu erkennen und gerade erst von einem Herzinfarkt genesen, kommt gar nicht richtig zu Wort.

    Genschers berühmtester Satz: "Liebe Landsleute..."

    „Liebe Landsleute“, beginnt er. „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Weiter kommt er nicht. Die Euphorie der Flüchtlinge bricht sich Bahn. „Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung“, schrieb Genscher viele Jahre später in seinen „Erinnerungen“.

    Schon auf dem Rückflug nach Bonn war dem Außenminister klar: Dieser Abend, als das bereits wankende SED-Regime unter dem Druck des Flüchtlingsstromes eine Schleuse in den Westen öffnen musste, bedeutete den Anfang vom Ende der DDR. Und tatsächlich: Keine sechs Wochen später fiel die Berliner Mauer.

    Für Hans-Dietrich Genscher, der in der Nacht zum Freitag nach längerer Krankheit im Alter von 89 Jahren im Kreise seiner Familie in seinem Haus bei Bonn an Herz-Kreislauf-Versagen nach einer Wirbelsäulenoperation gestorben ist, gehören die Stunden in Prag „zu den bewegendsten meines Lebens“. Denn der Liberale durfte in diesem historischen Moment ernten, was er viele Jahre zuvor gesät hatte. Reaktionen auf Genschers Tod

    Hans-Dietrich Genscher hatte eine politische Spürnase

    Als erster westlicher Spitzenpolitiker hatte der erfahrene Diplomat, ausgestattet mit einer feinen Spürnase, bereits Mitte der 80er Jahre den Wind der Veränderung gerochen, der erst ganz leicht zu wehen begonnen hatte. Mochte der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion noch als „Reich des Bösen“ abtun, mochte Bundeskanzler Helmut Kohl den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow noch mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels vergleichen, Hans-Dietrich Genscher erkannte früher als viele andere die Chancen für Deutschland und die Welt, die sich aus der Reformpolitik des Kremlchefs seit dessen Amtsantritt 1985 ergaben.

    „Genscher war ein hochintelligenter Mensch, der ein unglaubliches Gespür für Entwicklungen und politische Prozesse hatte“, sagt der frühere CSU-Chef und langjährige Finanzminister Theo Waigel über seinen einstigen Kollegen am Bonner Kabinettstisch. „Unermüdlich und rastlos“ habe er zwischen Ost und West vermittelt, überzeugt, dass seine „mission impossible“ am Ende erfolgreich sein werde. Gorbatschow sagt am Freitag, er habe „einen Freund verloren“.

    Gorbatschow hat einen Freund verloren

    Auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos forderte der FDP-Politiker den Westen bereits im Februar 1987 auf, Gorbatschow und dessen Bemühen um Transparenz und Veränderung „ernst zu nehmen“. Die Skepsis war groß, vor allem in Washington und London. Als „Genscherismus“ wurde sein unermüdliches Werben um Zusammenarbeit abgetan. Die „Falken“, die Gorbatschow nicht trauten, wollten von Entspannung und Abrüstung zunächst noch nichts wissen.

    Doch Genscher verließ sich auf seine feine Nase und hielt an seiner Position fest. Und so wurde er dank guter Beziehungen zu US-Außenminister James Baker wie seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse zu einem Architekten der deutschen und der europäischen Einigung. Der Ostblock fiel, schneller als von allen Auguren vorhergesagt, in den Jahren 1989/90 krachend in sich zusammen. Genscher, der Marathon-Mann: Stationen einer langen politischen Karriere

    Genscher: Die Ausnahmegestalt der Bonner Republik

    Genscher war ohne Zweifel eine Ausnahmegestalt auf der politischen Bühne der Bonner Republik. Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel würdigten ihn am Freitag als großen Staatsmann und Patrioten, der sich um Deutschland verdient gemacht habe. Kein deutscher Politiker war länger Minister als Genscher: 23 Jahre, von 1969 bis zu seinem überraschenden Rücktritt im Mai 1992, zunächst als Innenminister, dann 18 Jahre am Stück als Außenminister. Er wirkte unter – oder besser: selbstbewusst neben – den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt von der SPD und Helmut Kohl von der CDU und war stets ein gewiefter Taktiker und Strippenzieher.

    1982 beendete Genscher die sozialliberale Koalition, weil aus seiner Sicht SPD-Kanzler Schmidt die Wirtschaftspolitik der Regierung in der eigenen Partei nicht mehr durchsetzen konnte. Bei einem konstruktiven Misstrauensvotum im Bundestag verhalfen die Liberalen CDU-Chef Kohl zur Macht.

    Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher FDP während eines Fluges am 24. April 1992. Hans-Dietrich Genscher war oft mit einem gelben Pullunder zu sehen.
    Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher FDP während eines Fluges am 24. April 1992. Hans-Dietrich Genscher war oft mit einem gelben Pullunder zu sehen. Foto: Martin Gerten, dpa

    Die FDP hätte diese Wende beinahe zerrissen. Doch einmal von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt, hielt Genscher Kurs – auch wenn der listige Fuchs damit alle (Vor-)Urteile bestätigte, die über ihn im Umlauf waren: So spottete CSU-Chef Franz Josef Strauß einmal, Genscher habe „die Fähigkeit zum doppelten Spiel“. Und der sozialdemokratische Verteidigungsminister Hans Apel sagte: „Er folgt dem Wetter, stellt es dar und passt sich an.“ Doch für die Liberalen bedeutete der Seitenwechsel weitere 16 Jahre Regierungsbeteiligung – bis zur Abwahl der CDU/CSU/FDP-Koalition im September 1998.

    Der Politiker Genscher hatte einen unbändigen Lebenswillen

    Zitate, die von Hans-Dietrich Genscher bleiben werden

    Das sind die wichtigsten Zitate des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher.

    "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...." (Am 30. September 1989 spricht Genscher auf dem Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag seinen wohl berühmtesten Satz, dessen zweite Hälfte im Jubel der wartenden DDR-Bürger untergeht)

    "[Denn] Europa ist unsere Zukunft - wir haben keine andere."

    "Den guten Lotsen erkennt man an der ruhigen Hand und nicht an der lautesten Stimme."

    "Die Welt des 21. Jahrhunderts wird nur dann ihre Stabilität bewahren können, wenn sie von der Stärke des Rechts und nicht vom Recht des Stärkeren bestimmt wird."

    "Wenn ich zu entscheiden hätte, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, würde ich ohne Zögern das letztere vorziehen."

    "Was die Kosmetik für die Damen, ist der Regierungssprecher für die Regierung."

    "Auf Tiere könnte ich nie schießen, die müssten schon Selbstmord machen."

    "Mein Verhältnis zur französischen Sprache ähnelt dem zu meiner Frau. Ich liebe sie, aber ich beherrsche sie nicht."

    Nichts, aber auch überhaupt nichts hatte einst darauf hingedeutet, dass der am 21. März 1927 in Reideburg bei Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt geborene Genscher jahrzehntelang auf der Weltbühne agieren sollte. Als Kind war er oft angeschlagen. Nach seiner Zeit als Flakhelfer, beim Reichsarbeitsdienst, als Soldat und als Kriegsgefangener erkrankte er an Lungentuberkulose und verbrachte zwischen 1946 und 1957 insgesamt dreieinhalb Jahre in Kliniken und Lungenheilstätten. Diese „verlorenen“ Jahre sollten ihn prägen, in dieser Zeit entstanden seine ungeheure Vitalität, sein unbändiger Lebenswille, seine Arbeitswut, aber auch sein späterer Drang, alles und jeden kontrollieren zu wollen.

    In der FDP machte er nach seiner Flucht in den Westen 1952 rasch Karriere. 1965 zog er erstmals in den Bundestag ein, schon vier Jahre später wurde er Innenminister der von Willy Brandt und Walter Scheel geschmiedeten sozialliberalen Koalition. In diesem Amt erlebte er 1972 seine bittersten Stunden.

    Während der Olympischen Spiele in München misslang die Befreiung der von palästinensischen Terroristen gefangen genommenen israelischen Sportler. Vergeblich hatte sich Genscher selbst als Geisel angeboten. Bei der Polizeiaktion auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck starben schließlich alle verbliebenen neun Geiseln, ein deutscher Polizist und fünf Terroristen. In letzter Instanz war Genscher für diesen katastrophalen Einsatz verantwortlich.

    Zwei Jahre später spielte er eine undurchsichtige Rolle beim Sturz Brandts. Als Innenminister wusste Genscher frühzeitig Bescheid, dass der im Kanzleramt arbeitende Günter Guillaume für die DDR-Staatssicherheit spionierte, doch er unternahm nichts, um diesen umgehend aus der Umgebung des Bundeskanzlers zu entfernen.

    1974 wechselte Genscher als Nachfolger von Walter Scheel, der zum Bundespräsidenten gewählt wurde, ins Auswärtige Amt. 18 Jahre lang bestimmte er die Außenpolitik der Republik. Er prägte eine ganze Generation von Diplomaten. Vertrauen, Partnerschaft und Verlässlichkeit waren die Grundpfeiler seiner Politik. Als Weltmeister der Reisediplomatie jettete er rund um den Globus und pflegte den Dialog mit den Machthabern. So viel Zeit verbrachte er im Flugzeug, dass er sich nach einem Bonmot bei seinen zahlreichen Flügen über den Atlantik selbst begegnet sein soll.

    Der "Genschman" mit dem gelben Pullunder

    Ex-US-Außenminister Kissinger, der emalige deutsche Außenminister Genscher, Bundespräsident Gauck und der frühere US-Außenminister Baker auf dem Augustusplatz in Leipzig.
    Ex-US-Außenminister Kissinger, der emalige deutsche Außenminister Genscher, Bundespräsident Gauck und der frühere US-Außenminister Baker auf dem Augustusplatz in Leipzig. Foto: Hendrik Schmidt (dpa)

    In den dramatischen Monaten nach dem Mauerfall im November 1989 zahlte sich dieses Vertrauenskapital aus. Zusammen mit Helmut Kohl nutzte Genscher – längst als „Genschman“ mit dem charakteristischen gelben Pullunder zur Kultfigur geworden – die Gunst der Stunde und schmiedete im diplomatischen Dauereinsatz zwischen Moskau, Washington, Paris und London die deutsche Einheit. Der 3. Oktober 1990, als Deutschland, umgeben von Freunden, seine Wiedervereinigung zurückerlangte, wurde zum Höhepunkt seines Wirkens. Er hatte dazu beigetragen, den Kalten Krieg friedlich zu beenden.

    Im Mai 1992 trat er zurück. Freiwillig. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts war die Welt nicht friedlicher, sondern unübersichtlicher geworden, neue Konflikte zeichneten sich am Horizont ab. Genscher hatte seine historische Mission erfüllt. Eine neue Epoche begann. Aber auch als Ruheständler blieb er aktiv, reiste unermüdlich um die Welt und meldete sich zu aktuellen Themen zu Wort.

    Ende 2013 erreichte er in persönlichen Verhandlungen mit Wladimir Putin, dass der Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski freigelassen wurde. Vor allem aber zog er in seiner FDP hinter den Kulissen weiter die Strippen. Bis zuletzt ging bei den Liberalen ohne ihn nichts, gegen ihn erst recht nicht. So stand er in ständigem Kontakt mit seinem „Ziehsohn“ und Nachfolger an der Spitze der FDP wie im Auswärtigen Amt, Guido Westerwelle, der genau zwei Wochen vor ihm gestorben ist.

    Aber auch dem neuen FDP-Chef Christian Lindner stand er bis zuletzt als Mentor und Berater zur Seite. Das Scheitern „seiner“ FDP an der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013 traf ihn tief.

    Er hat es als „die dunkelste Stunde in der Parteigeschichte empfunden“. Eindringlich appellierte er an die Liberalen, sich nicht nur auf das Thema Steuersenkung zu beschränken, sondern sich auch zur sozialen Verantwortung zu bekennen. „Die FDP muss wieder eine Partei der fortschrittlichen Mitte werden.“

    Es klang wie sein Vermächtnis. Nun müssen die Liberalen ohne ihren Ehrenvorsitzenden, Übervater und Strippenzieher auskommen.

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